Kaum Autos, kaum Männer So sah Westdeutschland vor 70 Jahren aus
04.05.2019, 11:44 Uhr
Die Einführung der D-Mark 1948 und die sich füllenden Schaufenstern markierten für viele Westdeutsche rückblickend die eigentliche Gründung der Bundesrepublik.
(Foto: dpa)
Vor 70 Jahren wird die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Seitdem haben sich viele Lebensbereiche grundlegend geändert - doch es gibt heute auch Parallelen zum Jahr 1949.
Was vor 70 Jahren anders war als heute? Fast alles. Schneller zu beantworten ist die Frage: Was war ähnlich? Wie heute gab es auch im Deutschland des Jahres 1949 eine Wohnungsnot - nur eine viel größere. Deutschland war eine Trümmerwüste, wobei die Alliierten in erster Linie Wohngebiete bombardiert hatten. Wie heute gab es Flüchtlinge - nur viel mehr. Fast acht Millionen Vertriebene hatten sich nach Westdeutschland durchgeschlagen und wurden dort oft übel angefeindet. Und wie heute gab es Nazis - nur viel mehr. Einer Meinungsumfrage von 1949 zufolge war eine Mehrheit der Deutschen davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus eine gute Sache gewesen sei - wenngleich schlecht ausgeführt. 37 Prozent der Befragten in der amerikanischen Zone gaben 1946 zudem an, dass "die Vernichtung der Juden und Polen und anderer Nichtarier für die Sicherheit der Deutschen notwendig" gewesen sei.
Wenn man aus der heutigen in die damalige Bundesrepublik reisen könnte, würde man womöglich einen Schock erleiden. Die Straßen waren leer, insgesamt existierten wohl eine halbe Million Personenwagen in Deutschland - heute sind es laut Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer 47 Millionen. Zudem waren die Städte von Ruinen geprägt. In Köln, der am stärksten zerstörten Großstadt, schien die Lage so hoffnungslos, dass ernsthaft erwogen wurde, es an anderer Stelle wieder aufzubauen, nämlich weiter nördlich. Das hätte den Vorteil gehabt, dass man nicht erst den ganzen Schutt hätte wegräumen müssen.
Die damalige Bundesrepublik war so arm wie ein heutiges Dritte-Welt-Land. Von 1000 lebend Geborenen starben im Jahr 1946 knapp 100, also zehn Prozent. 1947 zeigten sich amerikanische Besucher schockiert über den Anblick ausgemergelter Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen. 1948 war die größte Not mit der Einführung der D-Mark zwar vorüber - die plötzlich reich gefüllten Schaufenster waren im Rückblick für viele Westdeutsche der eigentliche Gründungsakt der Bundesrepublik - aber die wenigsten konnten sich diese Waren leisten.
Dank gutem Essen ins Kanzleramt?
Gutes Essen blieb eine solche Besonderheit, dass es 1949 von Konrad Adenauer sogar gezielt eingesetzt worden sein soll, um sich an die Spitze des neuen Staates zu setzen. Schauplatz dieses Handstreichs war Erzählungen zufolge sein Haus in Rhöndorf bei Bonn an einem heißen Augustsonntag, eine Woche nach der ersten Bundestagswahl. Es ging um die Frage: Welcher Politiker der siegreichen CDU wird jetzt Bundeskanzler? Der 73 Jahre alte Adenauer hatte starke Konkurrenz. Seine Strategie: nicht reden, sondern essen. Der CSU-Politiker Franz Josef Strauß erinnerte sich später: "Überwältigender Eindruck für uns ausgehungerte Großstädter war ein Buffet von einer Reichhaltigkeit, wie ich es auf Privatkosten Adenauers weder vorher noch nachher jemals erlebt habe."
Als alle gesättigt, dankbar und wohl auch etwas angeheitert im Sofa saßen, verkündete Adenauer unvermittelt, "aus Parteikreisen" sei der Wunsch an ihn herangetragen worden, sich als Kanzler zur Verfügung zu stellen. Welche Parteikreise das gewesen sein sollten, blieb für immer sein Geheimnis. Doch ehe man groß reagieren konnte, erklärte er auch schon: "Ich bin trotz meiner Jahre grundsätzlich hierzu bereit." Niemand, so erzählt man, hatte die Courage, zu widersprechen. Man wollte ja nicht undankbar sein.
Übergewichtige Menschen hatten also Seltenheitswert in der Bundesrepublik von 1949. Und wo waren eigentlich die Männer? Auf 125 Frauen kamen kurz nach dem Krieg nur 100 Männer, bei den jüngeren Jahrgängen sogar auf 160 nur 100. Das führte dazu, dass viele Frauen berufstätig wurden. Wenn ihre Männer dann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, konnten sie sich häufig nicht mehr damit abfinden, wieder in die Rolle des Hausmütterchens abgedrängt zu werden: 1950 verzeichnete die Bundesrepublik eine Scheidungsrate von 14,6 Prozent - ein Wert, der erst Ende der 60er Jahre wieder erreicht wurde.
Kinobesuch statt Kurzurlaub
Arbeit gab es vor allem in der Landwirtschaft und in der Industrie. Das Ruhrgebiet - heute in vieler Hinsicht abgehängt - war das Kraftzentrum der jungen Bundesrepublik. Vor dem Wiedererstarken dieser größten Industrieregion Europas fürchtete sich vor allem die französische Regierung so sehr, dass Außenminister Robert Schuman 1950 eine überstaatliche Kontrolle der Schlüsselindustrien Kohle und Stahl vorschlug: Es war die Keimzelle der Europäischen Union.
Die Arbeit bestimmte das Leben, Verreisen konnte man nicht. Die meisten Berufstätigen hatten nur wenige freie Tage im Jahr und kaum Geld für das Nötigste. Erschwinglich war aber der Kinobesuch: Der durchschnittliche Bundesbürger sah sich 16 Mal im Jahr einen Film an, 1949 zum Beispiel die "Berliner Ballade" mit einem spindeldürren Hauptdarsteller namens Gert Fröbe. Selbiger ging danach wie ein Symbol des Wirtschaftswunders in die Breite und mimte 1964 an der Seite von Sean Connery den berühmtesten aller Bond-Bösewichte, Auric Goldfinger.
Es gibt noch etwas, was einem heutigen Menschen mit Sicherheit höchst unangenehm auffallen würde, wenn er in das Deutschland des Jahres 1949 katapultiert würde: Er hätte das Gefühl, nicht mehr erreichbar zu sein. Kommunikation war für die allermeisten Menschen nur im persönlichen Gespräch oder schriftlich per Brief möglich. Doch viele Briefe kamen gar nicht an, weil sich unter der angegebenen Adresse nur noch ein Krater oder ein Geröllfeld befand.
Fremd war den damaligen Menschen Nostalgie. Sie sahen nach vorn, nicht zurück - zu unangenehm war die Konfrontation mit den Nazi-Verbrechen und den Kriegserinnerungen. Die Deutschen seien in einen jahrelangen "Heilschlaf" verfallen, sagte der Historiker Götz Aly Ende 2017. "Was bitteschön hätte die Generation-Sieg-Heil denn tun sollen? Es bedurfte zunächst einer Art von therapeutischem Koma." Die schreckliche Kriegserfahrung habe aber auch einen positiven Effekt gehabt, erinnert sich der Schauspieler Mario Adorf: "Ich habe einen Tieffliegerangriff überlebt. Danach ist mir immer klar gewesen, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Das hat mir eine Grundzufriedenheit gegeben."
Quelle: ntv.de, Christoph Driessen, dpa