Nie aus Dschungel zurückgekehrt Vertuscht Panama das Verschwinden von zwei Niederländerinnen?


Die Suchaktion nach Kris Kremers und Lisanne Froon war die größte in der panamaischen Geschichte, schreiben die Autoren in ihrem Buch.
(Foto: picture alliance / dpa)
Zwei junge Niederländerinnen suchen 2014 ein Abenteuer in Panama - und kehren nach einem Ausflug in den Dschungel nie wieder nach Hause zurück. Die panamaischen Behörden gehen von einem Unfall aus. Ein Autorenduo aus Deutschland ist sicher, dass es so nicht gewesen sein kann.
Ein Rucksack, zwei Handys, eine Digitalkamera - und kaum mehr als 13 Prozent ihrer Skelette. Mehr wird von Lisanne Froon und Kris Kremers, zwei jungen Niederländerinnen, die sich ein Abenteuer in Lateinamerika erhofften, nicht gefunden. Neben dem Studium jobbten sie. In Panama wollen sie ihr Spanisch verbessern, anschließend für ein paar Wochen in einer Kita in einer kleinen Dschungel-Stadt aushelfen. Nichts an den Plänen der Studentinnen ist außergewöhnlich. Bis sie nach einer Wanderung nie wieder gesehen werden. Stattdessen werden besagte Bruchteile ihrer Knochen gefunden. Die Kamera zeigt etliche Bilder ihres Ausflugs, die Handys einen Telefonverlauf aus jenen Stunden. Indizien, die zeitweise mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.
Zehn Jahre ist das Verschwinden von Froon und Kremers im Dschungel von Boquete im Westen Panamas her. Die beiden Studentinnen aus dem niederländischen Amersfoort könnten bei ihrem Ausflug in die Wildnis verunglückt sein. So zumindest lautet das offizielle Ermittlungsergebnis der panamaischen Behörden. Ein tragischer Unfall, an dem niemand Schuld trägt. Auf den ersten Blick scheint das nachvollziehbar - Akte geschlossen.
Trotzdem bleibt der Fall ein Mysterium. So sind seine Hintergründe - die Umstände des Verschwindens, die Indizienlage und schließlich die Ermittlungsarbeit - weder eindeutig noch widerspruchslos. Bis heute spekulieren Menschen auf der ganzen Welt in etlichen Foren, Podcasts und Büchern über das, was damals im Dschungel geschehen ist. Mal steht ein Unfall im Fokus, öfter geht es um Mord und Entführung, manchmal um Menschenhandel und hin und wieder sogar um Paranormales. Dabei haben die meisten Theorien eins gemeinsam: Sie stellen die offizielle Version der panamaischen Ermittler infrage.
Die Reise nach Boquete
Genau das taten auch die beiden Autorinnen und Autoren Annette Nenner und Christian Hardinghaus, als sie noch einmal bei null anfingen. Die Ergebnisse ihrer rund einjährigen Recherche sind jüngst in ihrem Buch "Verschollen in Panama" erschienen. "Die Umstände des Falls sind derart mysteriös, dass ich wusste, dass hier etwas manipuliert worden sein muss", sagt Hardinghaus im Gespräch mit ntv.de. "Ich wollte wissen, wie nahe wir der Wahrheit kommen können." Während der Historiker die 2656 Seiten starke Ermittlungsakte wälzte, recherchierte Nenner vor Ort: Die Journalistin sprach mit Zeugen von damals und jenen Menschen, die das Netz bereits als Täter an den Pranger gestellt hat. Sie erkundete die Stadt Boquete - und schließlich jenes Gebiet im Dschungel, in dem Froon und Kremers verschwunden sein sollen. Letzteres gehört zu jenen Momenten der Recherche, die Nenner heute als blauäugig beschreibt. "Mit dem Wissen, das ich heute habe", sagt sie, "würde ich da nie wieder alleine hineingehen".
Für die 22-jährige Froon und die 21-jährige Kremers startet das Abenteuer am Morgen des 15. März 2014. Beide haben gerade ihren Bachelor-Abschluss in der Tasche - nun hebt ihr Flieger in Richtung Panama ab. Die ersten Tage in der Ferne verbringen sie paradiesisch. Sie absolvieren einen Sprachkurs unter Palmen, lernen neue Freunde kennen und tanken Sonne. Anschließend geht ihre Reise weiter ins bergige Boquete, wo sie in einer Gastfamilie leben und ihre Freiwilligenarbeit leisten wollen. Allerdings beginnt dieser Teil der Reise mit einem Rückschlag: Die Kita sagt ihren Einsatz aus unerklärlichen Gründen ab - die beiden Niederländerinnen müssen kurzfristig umplanen.
Mit begrenztem Geldbeutel fällt ihre Wahl schließlich auf eine Wanderung auf dem Pianista Trail. Er liegt laut Google kaum vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und ist hin und zurück nur rund acht Kilometer Kilometer lang. Ein perfekter Tagesausflug also, zu dem Froon und Kremers am 1. April 2014 aufbrechen. Ein Taxifahrer bringt sie zum Trail. Er könnte der letzte gewesen sein, der die beiden jungen Frauen - mit Sicherheit - gesehen hat.
Erschreckende Funde
Als Kremers und Froon am darauffolgenden Tag nicht bei ihrer gebuchten Tour zu einer Erdbeerfarm aufschlagen, geht alles ganz schnell: Die Behörden sind alarmiert, Interpol wird eingeschaltet. Die zehnwöchige Suche nach den Niederländerinnen avanciert zur größten der panamaischen Geschichte, schreiben Nenner und Hardinghaus. Neben Zivilschutzbehörden hilft die Luftwaffe bei der Suche. Gleich sechs Staatsanwaltschaften ermitteln in dem Fall, die Eltern der Vermissten setzen eine Belohnung aus, der Präsident schaltet sich ein. Jedoch bleibt all das zunächst ergebnislos.
Bis ein indigenes Pärchen zwei Monate nach dem Verschwinden, ganz plötzlich, den Rucksack der Frauen in einem Flussbett findet, zwölf Kilometer Luftlinie vom Beginn des Pfads entfernt. Darin befinden sich ihre Handys, zwei BHs, 87 Dollar - und besagte Kamera. Die Fotos von ihrem Wanderausflug gehören zweifellos zu den größten Fragezeichen des Falls. So entstanden die ersten Aufnahmen am 1. April, Kremers und Froon strahlen in die Kamera, halten ihren Daumen hoch. Dann dokumentierte die Kamera sieben Tage lang nichts, bis die Frauen am 8. April - mitten in der Nacht - gleich 99 mal auf den Auslöser drückten. Zu sehen ist kaum mehr als der dichte Urwald, mal ragt ein einzelnes Körperteil in die Linse, mal eine Plastiktüte an einem Ast. Was die Frauen porträtieren wollten und warum der Strom an Fotos anschließend wieder abreißt, ist nicht geklärt.
Schließlich mehren sich die erschreckenden Funde: Unweit des Rucksacks wird ein Schuh Froons entdeckt. In ihm steckt ein abgetrennter, skelettierter Fuß. Später werden eine Jeansshorts und weitere Knochen gefunden. Einige lassen sich Froon zuordnen, andere Kremers. Dann hören die Entdeckungen von Indizien im Dschungel so plötzlich auf, wie sie begonnen haben. Bald darauf werden die offiziellen Ermittlungen eingestellt. Die beiden Niederländerinnen seien gestorben, weil sie in einen Fluss gefallen seien, der sie dann zu Tode geschleift habe, auf diese Version des Geschehens legen sich die panamaischen Behörden fest.
Das merkwürdige Telefonverhalten
Nun ist diese Theorie alles andere als abwegig. Zwei junge Niederländerinnen in den Dichten des Urwalds, ohne Ortskenntnisse oder Tourguide. Noch dazu hatten sie kaum Proviant dabei, Froon war durch eine Erkältung leicht angeschlagen, hatte außerdem Fußbeschwerden. "Und trotzdem sprechen die Indizien gegen einen reinen Unfall", wendet Hardinghaus ein. "Die Ergebnisse der forensischen Untersuchung durch die Niederlande zeigen, dass es so, wie die panamaischen Behörden sagen, nicht gewesen sein kann."

Ein auf dem Pfad aufgestelltes Kreuz erinnert an Kris Kremers und Lisanne Froon.
(Foto: Annette Nenner)
So waren etwa der Rucksack und die gefundene Kleidung unversehrt. Auch gab es keine Blutspuren und die gefundenen Knochen schienen gebleicht. "Vor allem passt das Telefonverhalten der Frauen nicht zur Unfalltheorie", erklärt Hardinghaus. Kremers und Froon haben offenbar vergeblich versucht, den Notruf zu erreichen. Danach wurde das Handy immer mal wieder an - und wenige Sekunden später wieder ausgeschaltet. Gemutmaßt wird, dass die Frauen sowohl nach einem Signal suchten als auch den Akku schonen wollten. Hardinghaus und Nenner ließen die Daten der Handys von einem Experten untersuchen. Das Ergebnis: Die wenigen Sekunden des Einschaltens reichten nicht, um nach einem Signal zu suchen. "Es wirkt, als habe jemand versucht, zu zeigen, dass die Handys zwar aktiv sind, aber unbedingt vermeiden wollen, dass sich das Handy ins Netz einloggt", sagt Hardinghaus. "Vielleicht, weil dann herausgekommen wäre, dass die Handys gar nicht mehr im Dschungel sind."
Tatsächlich wimmelt es im Fall des Verschwindens von Lisanne Froon und Kris Kremers nur so vor Verbrechenstheorien. Klickt man sich durch Online-Foren und Podcasts, fällt dabei immer wieder ein Name: Feliciano Gonzalez. Er soll die beiden jungen Frauen entführt und sie anschließend getötet haben. Feliciano ist ein bekannter Tourguide in der Region, mit ihm waren die Niederländerinnen am Tag nach ihrem Verschwinden auf der Erdbeerfarm verabredet. Jene, die ihn als Täter ausmachen, werfen ihm insbesondere das vor: seine Ortskenntnis. Zudem soll er kurz nach dem Verschwinden alleine nach den Frauen gesucht haben, sowohl in deren Gästezimmer als auch auf dem Pianista Trail. Angeblich, so der Vorwurf, um Spuren zu verwischen.
Die Verbrechenstheorien
"Für Feliciano und seine Familie ist diese Hetzjagd verheerend", sagt Nenner. Die Journalistin verbrachte in Boquete viel Zeit mit dem Tourguide, lernte ihn dabei als "authentischen und ehrlichen" Menschen kennen. "Wir konnten Feliciano schnell als Täter ausschließen", sagt sie weiter. "Vor allem, weil er am 1. April 2014 gar nicht in Boquete, sondern - schriftlich nachgewiesen - im Krankenhaus war." Auch tauche er in den Akten nirgends als Verdächtiger auf. "Am Ende stellten sich auch die behaupteten Indizien gegen ihn als falsch heraus."

Neben Knochenfragmenten wurden auch wenige Kleidungsstücke der verschwundenen Frauen gefunden.
(Foto: picture alliance / dpa)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die Autoren hinsichtlich der zweiten großen Verbrechenstheorie. Demnach soll eine ortsansässige Bande, die den Namen Pandilla erhält, etwas mit dem Verschwinden zu tun haben. Die sieben jungen Männer sollen die Niederländerinnen entführt, vergewaltigt und anschließend getötet haben. Befeuert wird diese Spekulation vor allem von einem US-amerikanischen Boulevard-Journalisten, dessen Podcast zum Fall bereits 2,5 Millionen mal heruntergeladen wurde. Als wichtigstes Indiz führt er ein Foto an, das sowohl Bandenmitglieder als auch Kremers und Froon beim Baden in einer heißen Quelle zeigen soll. Allerdings sind die Gesichter auf der Aufnahme nicht eindeutig zu erkennen. Es könnten Kremers und Froon sein - oder eben nicht.
"Sie sind es nicht", fasst Nenner das Ergebnis ihrer Recherche zusammen. Demnach konnte sie alle Personen auf dem Foto ausfindig machen, sie sogar sprechen - "auch die Mädchen, die wirklich auf der Aufnahme zu sehen sind".
Die mögliche Vertuschung
Mit ihrer Recherche können die Autoren den öffentlichen Anschuldigungen gegen nicht verurteilte, womöglich unschuldige Menschen etwas entgegensetzen. Allerdings bleibt die wichtigste Frage unbeantwortet: Was ist Kris Kremers und Lisanne Froon im Dschungel von Boquete zugestoßen? "Wir wissen noch nicht, was genau passiert ist", sagt Hardinghaus. "Aber wir sind sicher, dass fremde Personen in das Verschwinden verwickelt sind." Und weiter: "Diese Personen haben wahrscheinlich mächtige Freunde, möglicherweise sogar in Regierungs- oder Ermittlungsinstitutionen selbst." Denn anders, da sind sich die Autoren sicher, seien die widersprüchlichen Indizien und Fährten nicht zu erklären.

Auch ein niederländischer Suchtrupp mit speziell ausgebildeten Hunden reiste damals nach Boquete, um nach den Frauen zu suchen.
(Foto: picture alliance / dpa)
So seien nicht nur die gefundenen Indizien kaum mit der Unfalltheorie zu vereinen. Auch seien Spuren, die in andere Richtungen führten, gezielt missachtet worden. Dabei denken die Autoren vor allem an einen roten Truck, der zur Zeit des Verschwindens der Frauen auf dem Pianista Trail gesehen wurde und - so das Ergebnis ihrer Recherche - ganz in der Nähe der Niederländerinnen in Boquete gestartet war. Weder das Auto noch seine Insassen seien weiter untersucht worden, berichtet Hardinghaus. Gleiches gilt für einen weiteren Bergführer, der laut eigener Aussage zur gleichen Zeit wie Froon und Kremers auf dem Pfad unterwegs war und widersprüchliche Aussagen zu ihrer Begegnung machte. Schließlich sei ein offizieller Suchtrupp kurz nach dem Auffinden des Rucksacks ohne Begründung zurückgepfiffen worden. "Es ist schon auffällig, dass die Ermittlungen immer dann und dort gestoppt wurden, wo man hätte weiterkommen können", fasst Hardinghaus die Recherche der Akten zusammen.
Während das Verschwinden von Lisanne Froon und Kris Kremers Menschen aus aller Welt zum Spekulieren anregt, ist es für ihre Familien kaum mehr als das wohl schlimmste Schicksal ihres Lebens. Um weiterzumachen, haben sie sich mit der Unfalltheorie arrangiert. Nenner und Hardinghaus gehen hingegen davon aus, dass das "fehlende Puzzlestück eines Tages auftaucht" und der Fall gelöst wird. Ob dies dann Konsequenzen haben wird, stehe jedoch auf einem anderen Blatt. "Denn dann müssten die panamaischen Behörden ein Interesse daran haben und selbst tätig werden."
Quelle: ntv.de