Panorama

Die Grenze des Zumutbaren Was für Bilder sind nötig, um Krieg zu begreifen?

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Bild der Zerstörung im Gazastreifen: Nach einem israelischen Luftangriff suchen Palästinenser in Trümmern nach Überlebenden.

Bild der Zerstörung im Gazastreifen: Nach einem israelischen Luftangriff suchen Palästinenser in Trümmern nach Überlebenden.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Blut, Gewalt und Leichen: Kriegsbilder sind derzeit überall präsent. Nicht jeder kann sie so einfach verarbeiten. Wie Betrachter mit Kriegsbildern umgehen können und was Menschen sehen sollten, um sich das Grauen vorstellen zu können, erklärt Medienethiker Christian Schicha.

ntv.de: Medien sollen zeigen, was ist. Gilt das auch für den Krieg?

Christian Schicha: Medien sollen informieren über das, was ist. Aber nicht alles zeigen, was ist. Problematisch ist die Darstellung von Opfern. Opfer wünschen sich alles andere, als in ihrem Leid öffentlich im Bild präsentiert zu werden. Und die Perspektive der Angehörigen ist zentral. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein Angehöriger aus den Medien über ein Bild erfährt, dass jemand verunglückt oder gar Opfer einer kriegerischen Handlung geworden ist. Auch die Wirkung auf die Rezipienten ist wichtig. In Deutschland sind wir dankenswerterweise weit weg von kriegerischen Auseinandersetzungen, werden aber täglich mit Kriegsbildern über alle möglichen Kanäle konfrontiert.

Was für Bilder müssen gezeigt werden, um Krieg zu verstehen?

Es muss gar nicht so viel gezeigt werden. Um sich das Grauen vorstellen zu können, reicht es, die Schauplätze zu zeigen. Man muss den Grad der Verwüstung und die zerstörte Infrastruktur sehen. Viel zu selten sehen wir eine Vorher-nachher-Perspektive. Jeder Krieg ist ein Zivilisationsbruch. Wenn Krieg stattfindet, ist alles andere gescheitert. Journalisten müssen in Wort und Bild darüber berichten. Aufgrund von kommerziellen Interessen scheint mir die Dimension des Vorführens und der Voyeurismus für einige Medien aber eine Rolle zu spielen. Deshalb ist es wichtig, dass man Grenzen festlegt, dann ist eine umfassende, aufklärerische, angemessene Berichterstattung möglich. Und das ist die originäre Aufgabe des Journalismus.

Wie kann man Krieg darstellen, ohne die Grenzen des Zumutbaren zu überschreiten?

Das Entscheidende ist immer, dass die Opfer auf dem Bild nicht identifizierbar sind. Das ist zu respektieren. Das ist eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte. Medien müssen sich Strategien überlegen, wie sie gleichzeitig visuell angemessen informieren und die Opfer dabei nicht vorführen. Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zeigte die "New York Times" im März 2022 ein sehr umstrittenes Titelbild: Auf dem unzensierten Bild können die Leichen einer kompletten Familie, die in Irpin ums Leben gekommen war, identifiziert werden. Das ist ein problematisches Beispiel. Im Fall von Aylan Kurdi, einem Flüchtlingsjungen, dessen Körper 2015 tot an einem Strand am Mittelmeer angespült wurde, hat sich die "Bild" dafür entschieden, das Grauen zu zeigen. Im Deutschen Presserat wurde anschließend darüber diskutiert, ob da die Grenze überschritten wurde. Es gibt viele Möglichkeiten, das Grauen visuell zu dokumentieren und dabei die Opfer nicht vorzuführen. Man kann Gesichter verpixeln, man kann Opfer von hinten zeigen.

Vor allem in den sozialen Medien ist die Gefahr groß, in erschütternden Bildern zu versinken.

Auch ich beobachte diese dramatische Entwicklung. Beim sogenannten Doomscrolling, dem exzessiven Konsum von Nachrichten im Internet, kann der Betrachter traumatische Schäden erleiden. Bei der sogenannten Angstlust ist man so gefesselt, dass man immer weiter recherchiert. Von einem Fall zum nächsten, es wird immer schlimmer und schlimmer. Schließlich sieht der Betrachter sich die ungefilterten Bilder beispielsweise von Massenhinrichtungen an - auch das hinterlässt traumatische Konsequenzen.

Welche Filter gibt es dafür im Internet?

Es gibt viel Müll im Netz, wie zum Beispiel Kinderpornografie. Menschen, die als Cleaner arbeiten und sich den ganzen Tag Horrorbilder auf unterschiedlichen Kanälen ansehen und quasi im Sekundentakt über die Bildzensur entscheiden, sind nach kürzester Zeit traumatisiert. Diese Arbeit erfordert medizinische und psychologische Hilfe. Ebenso sollten wir nicht vergessen, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, sich im Netz alles anzugucken. Leider gibt es zu wenig Filter, mehr Kontrolle wäre gut. Allein die Masse an Informationen und Kanälen führt dazu, dass Minderjährige jedes Horrorbild im Netz finden können. In öffentlich-rechtlichen und auch kommerziellen Medien greift meistens die Selbstkontrolle und der Jugendschutz wird gewährleistet. Aber für Internetangebote gilt das nicht.

Sie haben gesagt, dass die Kriegsbilder bei den Betrachtenden heftige Emotionen bis hin zu Traumata auslösen können. Wie können wir das Gesehene verarbeiten?

Es gibt keine eindeutige Wirkung. Einerseits gucken sich Menschen Kriegsbilder bewusst an und sind trotzdem gefestigt. Anderseits gibt es Menschen, die emotional geschockt auf Bilder vom Krieg reagieren. Jeder ist anders ausgestattet. Vielen hilft der Austausch mit anderen, also mit Menschen darüber zu sprechen. Wichtig ist es auch, psychologische Hilfe wahrzunehmen. Manchen sollte man raten, konsequent wegzuschauen. Niemand kann gezwungen werden, sich Kriegsbilder anzusehen.

Es gibt auch viele Kriegsbilder, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden sind.

Sogenannte Schlüsselbilder stehen ikonisch für ein Ereignis. Beispielsweise das von Kim Phuc von 1972: Die Fotografie, auf der ein nacktes Mädchen vor den Napalm-Bomben wegrennt, ist eine Ikone des Vietnamkriegs. Natürlich ist es wichtig, solche Kriegsbilder zu zeigen, um Menschen zu informieren. Einige Fotografen sind in der Lage, die Dimension des Krieges emotional einzufangen. Man darf nicht vergessen, dass sich Journalisten in Lebensgefahr begeben, um den Krieg in Wort und Bild zu dokumentieren, wie beispielsweise Maks Levin, der im März 2022 in der Ukraine ums Leben gekommen ist. Seine Bilder dokumentieren das Leid der Menschen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Anhand von zerstörten Gebäuden zeigen sie die Folgen des Krieges für den Alltag der Menschen.

Oft sind wir mit einer Bilderflut konfrontiert. Wie viele Bilder brauchen wir?

Das hängt vom Medium ab. Fernsehformate senden in Endlosschleife Kriegsbilder. Sender sollten sich Gedanken machen müssen, was gezeigt werden darf. Weniger ist mehr. Man darf nicht alles zeigen, was ist. Ein grundlegendes Problem könnte sein, dass die Betrachter abstumpfen. Wie in der aktuellen Debatte im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Einige Stimmen sind der Meinung, sie hätten schon zu viele zerstörte Städte gesehen - es reiche langsam. Man solle sich jetzt mit anderen Dingen beschäftigen.

Sowohl im Ukraine-Krieg als auch im Nahostkonflikt werden Bilder zu Propagandazwecken instrumentalisiert. Wie können Betrachter und Betrachterinnen dies "durchschauen"?

Christian Schicha ist Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Christian Schicha ist Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Das gilt erst recht in Bezug auf Kriegsbilder: gefälschte, manipulierte und falsch kontextualisierte Kriegsbilder hat es immer gegeben, aber die digitalen Möglichkeiten machen Manipulation einfach. Wir sehen andauernd Bilder, bei denen wir nicht wissen, ob sie authentisch sind. Da sollten sich Betrachter fragen: Ist das Bild echt, nachgestellt, montiert oder vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen? Beispielweise das berühmte Video von Barack Obama, in dem dieser Donald Trump als Idioten bezeichnet. Das hat Obama so nie gesagt. Technische Möglichkeiten helfen, ein angebliches Kriegsbild zu überprüfen. Beispielsweise mit einer Bilder-Rückwärtssuche oder einer tiefgehenden Recherche von Quellen. Das Problem besteht darin, dass aufgrund der Fülle des Bildmaterials und der begrenzten Ressourcen eine angemessene Überprüfung kaum möglich ist.

Stichwort Künstliche Intelligenz: Wie erkennt man KI-Kriegsbilder?

KI-Bilder erkennt man daran, dass die Proportionen nicht stimmen. Details sind wichtig. Es gibt KI-Bilder, auf denen Menschen sechs Finger haben, weil die KI einfach technisch noch nicht so weit ist. In den letzten Jahren hat sich KI so rasant entwickelt, dass sie immer professioneller und fehlerfreie Bilder generieren kann. Allein die Masse an Informationen erschwert die Kontrolle. Diese Kontrolle zukünftig zu gewährleisten, ist ein großes Problem.

Mit Christian Schicha sprach Rebecca Wegmann

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen