Verfassungsänderung rückt in die Ferne AKP verpasst absolute Mehrheit in der Türkei
07.06.2015, 18:40 Uhr
Selfie mit dem Idol vieler Wähler: Erdogan bei der Stimmabgabe
(Foto: picture alliance / dpa)
Recep Tayyip Erdogan stand gar nicht zur Wahl. Er bleibt Präsident und die von ihm gegründete AKP bleibt nach der heutigen Parlamentswahl stärkste Partei. Trotzdem hat der türkische Präsident verloren. Denn er wollte mehr.
Bei der Parlamentswahl in der Türkei droht der islamisch-konservativen AKP erstmals seit mehr als zwölf Jahren der Verlust der absoluten Mehrheit. Nach Auszählung von mehr als zwei Dritteln der Stimmen kommt sie auf 43,1 Prozent der Stimmen beziehungsweise 268 Mandate, wie der Sender CNN Türk berichtete.
Das wäre weniger als die absolute Mehrheit von 276 Sitzen. Die pro-kurdische HDP kommt demnach mit 11 Prozent knapp über die Zehn-Prozent-Hürde und erlangt 75 Sitze. Sollte sich das bewahrheiten, dürfte die HDP die AKP-Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems unter Präsident Recep Tayyip Erdogan vereitelt haben. Für ein Referendum über eine Verfassungsreform zur Einführung des Präsidialsystems würde die AKP 330 Sitze benötigen.
An zweiter Stelle liegt den Teilergebnissen zufolge die Mitte-Links Partei CHP (24,6 Prozent/125 Sitze), die ultrarechte MHP kommt mit 17,1 Prozent (85 Sitze) auf den dritten Rang. Bei der Parlamentswahl 2011 hatte die damals noch von Erdogan geführte AKP 49,8 Prozent der Stimmen gewonnen.
Die Parlamentswahl ist die erste seit dem Amtsantritt von Präsident Erdogan im vergangenen August. Erdogan war davor Ministerpräsident. Das Wahlkampfende wurde von schwerer Gewalt überschattet. Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine HDP-Veranstaltung in der Kurden-Metropole Diyarbakir wurden am Freitagabend nach Angaben von Polizei und Ärzten mindestens drei Menschen getötet und 220 verletzt. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu sagte nach seiner Stimmabgabe laut DHA, ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Der Hintergrund der Tat blieb weiter unklar.
15 Verletzte bei Zusammenstößen
Im Wahlkampf war die HDP immer wieder zum Ziel von Anschlägen und Übergriffen geworden. Nach Angaben des Innenministeriums schützten am Sonntag mehr als 400.000 Sicherheitskräfte die Wahl. Zehntausende Wahlbeobachter waren im Einsatz.
Der Ko-Chef der HDP, Selahattin Demirtas, kritisierte bei der Abgabe seiner Stimme in Istanbul, der Wahlkampf sei "ungerecht" verlaufen. Erdogan hatte bei Massenveranstaltungen während des Wahlkampfs immer wieder die HDP angegriffen, obwohl die Verfassung dem Präsidenten Neutralität vorschreibt. Beschwerden darüber bei der Obersten Wahlbehörde blieben folgenlos.
Anhänger und Gegner der HDP warfen sich am Wahltag über soziale Medien gegenseitig Wahlmanipulationen vor. In der südosttürkischen Stadt Sanliurfa wurden bei Zusammenstößen von Anhängern verschiedener Parteien 15 Menschen verletzt, wie die Nachrichtenagentur DHA meldete. Der Menschenrechtsverein IHD beklagte nach einem Bericht der Online-Zeitung "Radikal" Unregelmäßigkeiten an verschiedenen Orten.
Quelle: ntv.de, mbo/dpa