Großer Andrang auf Wahllokale Ägypter gehen erstmals wählen
28.11.2011, 21:48 Uhr
Dieser Mann gab seine Stimme in Kairo ab.
(Foto: dpa)
In Teilen Ägyptens finden die ersten freien Parlamentswahlen in der Geschichte des Landes statt. Der Andrang ist groß, die Wahllokale bleiben länger als geplant geöffnet. Es kommt nur zu vereinzelten Zwischenfällen. Das Endergebnis wird erst im Januar verkündet. Auf der Kairoer Tahrir-Platz harren derweil einige Hundert Demonstranten aus.
Ägypten im Wahlfieber: Erstmals seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Husni Mubarak im Februar haben die Ägypter gewählt. Die Aussicht auf faire und freie Wahlen ohne Schlägertrupps und gefälschte Stimmzettel mobilisierte so viele Wähler wie nie zuvor. Wegen des großen Andrangs blieben die Wahllokale zwei Stunden länger offen.

Tausende Kandidaten, hunderte Listen: Die Wähler stehen vor einer komplizierten Aufgabe.
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Nach den blutigen Auseinandersetzungen in den vergangenen Tagen sicherten Tausende von Soldaten den Urnengang ab. Der Oberste Militärrat hatte zuvor eine Verschiebung der Wahl abgelehnt. Auch die jahrzehntelang verbotenen islamistischen Muslimbrüder und die neuen radikalen Islamisten-Parteien sind gegen jede Verzögerung, weil sie sich jetzt bessere Chancen ausrechnen.
Als Favorit gilt eine Parteienallianz unter Führung der Muslimbruderschaft. Da es keine verlässlichen Meinungsumfragen gibt, sind Vorhersagen jedoch äußerst schwierig. Wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments wird die Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung sein. Der Militärrat wird aber an der Macht bleiben, bis ein ziviler Präsident gewählt ist. Dies soll im Juni 2012 geschehen.
Israel, das einen Friedensvertrag mit Ägypten geschlossen hat, befürchtet im Fall einer Machtübernahme durch die Muslimbrüder in Ägypten unruhige Zeiten und eine weitere Abkühlung des Verhältnisses. Gegengewicht zu den Muslimbrüdern ist die "Ägyptische Allianz". Das Bündnis aus linken, bürgerlichen und liberalen Parteien tritt unter anderem für eine strikte Trennung von Staat und Kirche ein. Die Nationaldemokratische Partei von Ex-Präsident Mubarak, die jahrzehntelang die ägyptische Politik dominierte, war im Frühjahr aufgelöst worden.
"Atmosphäre der Sicherheit"
Rund 50 der insgesamt 85 Millionen Ägypter sind aufgerufen, die 498 Abgeordneten im Parlament zu bestimmen. Insgesamt treten 6000 Kandidaten für 400 Parteilisten an. Viele Bewerber sind völlig unbekannt. Gewählt wird bis zum 10. Januar in drei Etappen. Diesmal geben zuerst die Bewohner von Kairo, Alexandria und sieben weiteren Provinzen ihre Stimmen ab. Dafür haben sie Zeit bis Dienstagabend. Dann sollen auch schon die Ergebnisse der Direktkandidaten veröffentlicht werden.
Im Dezember und Januar folgen die anderen 18 Provinzen. Nach jedem Wahlgang ist eine Stichwahl in den Bezirken vorgesehen, in denen kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hat. Zwei Drittel der insgesamt 498 Mandate sind für Listenkandidaten reserviert. Die restlichen Sitze gehen an Direktkandidaten. Das amtliche Wahlergebnis soll am 13. Januar bekanntgegeben werden.
Viele ältere Ägypter, die aus Resignation über die Allmacht der regierenden Nationaldemokratischen Partei von Mubarak schon seit Jahren nicht mehr wählen gegangen waren, reihten sich am ersten Wahltag in die Schlangen ein. Augenzeugen sprachen von einer "Atmosphäre der Sicherheit", wie es sie früher bei Wahlen nicht gegeben habe.
Wenige Zwischenfälle
Der Militärratschef, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, machte eine Runde durch Kairoer Wahllokale, um sich über den Verlauf des Urnengangs zu informieren, wie das Staatsfernsehen berichtete. Bis zum Nachmittag kam es lediglich in einem Wahlbezirk der südlichen Provinz Assiut zu Gewalt, als Angehörige des Stammes eines Kandidaten ein Wahllokal stürmten, weil der Kandidat ausgeschlossen worden war.
Wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale verübten Unbekannte zudem auf der Sinai-Halbinsel einen Anschlag auf eine Gaspipeline nach Israel und Jordanien. Die Gaslieferungen an Israel sind in Ägypten umstritten. Es war bereits die achte Attacke auf die Pipeline seit dem Sturz Mubaraks.
Beobachter meldeten, in einigen Wahlbezirken habe die Stimmabgabe nicht pünktlich begonnen, weil die Richter, die dort Aufsicht führen sollten, nicht rechtzeitig erschienen, oder weil Stimmzettel nicht gestempelt waren. Vielerorts verstießen Parteimitglieder gegen das Verbot, vor den Wahllokalen für ihre Kandidaten zu werben. Vor allem Anhänger der islamistischen Partei der Freiheit und Gerechtigkeit - der politische Arm der Muslimbrüderschaft - verteilten Flugblätter.
Wenige Demonstranten auf dem Tahrir-Platz
In Ägypten war die Wahlbeteiligung in der Mubarak-Ära immer sehr niedrig gewesen. Bei der letzten Parlamentswahl 2010 hatte sie offiziell bei 35 Prozent gelegen. Beobachter hatten jedoch damals vermutet, dass diese Zahl geschönt war. Diesmal lag die Wahlbeteiligung in vielen Wahllokalen zwischen 50 und 70 Prozent.
Der Wahlkampf war von Protesten gegen das herrschende Militär und von Gewalt gegen Demonstranten überschattet gewesen, die 41 Menschen das Leben kosteten. Auf dem Tahrir-Platz, der das Zentrum der Proteste war, harrten am Wahltag nur noch einige hundert, vorwiegend junge Demonstranten aus.
Am Wochenende waren dagegen Tausende auf den Platz im Stadtzentrum Kairos gekommen, der schon während des Arabischen Frühlings der Mittelpunkt der Proteste war. Vor dem etwa 500 Meter entfernten Kabinettsgebäude formten Aktivisten eine Sitzblockade, um den vom Militärrat zum neuen Ministerpräsidenten ernannten Kamal al-Gansuri daran zu hindern, das Gebäude zu betreten.
Quelle: ntv.de, dpa/rts