Marina Weisband über die Ukraine "Alles, alles eine Frage des Geldes"
01.06.2012, 12:36 Uhr
Weisband erkennt das Kiew ihrer Kindheit oft nicht wieder.
Deutschlands bekannteste Piratin, Marina Weisband, weiß, wovon sie spricht. Als Kind lebte sie in der , nun hat sie das Land kurz vor der EM wieder besucht. Im Gespräch mit n-tv.de zeichnet die ehemalige politische Geschäftsführerin der Partei ein zwiespältiges Bild ihrer alten Heimat. Sie berichtet von gigantischen Puppenschlössern, bezahlten Demonstranten, Piraten und einem Gefühl der Schutzlosigkeit.
n-tv.de: Frau Weisband, Sie waren gerade einige Wochen in Ihrer alten Heimat, der Ukraine. Was hat Sie da am meisten überrascht?
Marina Weisband: Es gibt dort mittlerweile eine völlig unwirkliche Spaltung der Gesellschaft, ein extremes soziales Gefälle. Auf der einen Seite bauen Menschen Puppenschlösser, Privatvillen mit Fensterbänken aus Onyx und Türen aus Kristall, andererseits können sich die meisten kaum etwas leisten. Rentner bekommen durchschnittlich 50 Euro Rente im Monat, dabei sind die Preise inzwischen vergleichbar mit unseren. Das heißt, sie können sich nicht mal Tee kaufen.
Führt das nicht zu starken sozialen Spannungen?
Natürlich gibt es die, sie sind sogar unüberwindbar. Aber die verschiedenen Welten existieren so aneinander vorbei, dass die beiden sozialen Gruppen gar nicht miteinander in Berührung kommen. Es ist auch überraschend, dass die Leute überhaupt nicht aufstehen, sondern sich nur in der Küche beschweren. Aber die Energie reicht nicht für mehr. Es herrscht eine generelle Müdigkeit im Land.
Wie erklären Sie sich die?
Man war noch nie sehr revolutionsfreudig. Als die Orange Revolution ausbrach, entstand endlich ein Gefühl der Hoffnung und des Aufbruchs. Man glaubte, dass die Bevölkerung endlich etwas erreichen konnte. Nachdem dann aber eine unfähige Regierung durch die Revolution an die Macht kam und das wichtigste Problem, die Korruption, nicht anging, sondern vielmehr die Korruptionsstrukturen beibehielt, haben die Leute gesehen: Selbst wenn wir aufstehen, passiert nichts. Warum sollten wir uns dann kümmern?
Und doch muss ja irgendetwas den Menschen Hoffnung geben …
Viele klammern sich an die Religion, die in der Ukraine sehr auf dem Vormarsch ist. Ich habe an ukrainischen Schulen Untersuchungen zu Wertestrukturen von Kindern geführt. Der Wert, der am wichtigsten war, war die Religion. Die Lehrer hat das alle sehr überrascht, zumal man über Religion in der Schule nicht spricht.
Gibt es noch etwas?
Das andere ist, dass man sich halbherzig an Julia klammert, wie man in der Ukraine nennt. Jeder, mit dem ich gesprochen habe, sagt und weiß, dass sie eine durchaus ambivalente Figur ist und auch keine weiße Weste hat. Aber die meisten glauben, sie könnten sich wehren, wenn sie einen Anführer hätten, und sie könnte dieser Anführer sein.
Der Westen hat im Fall Timoschenko zuletzt mehr Rechtsstaatlichkeit angemahnt. Wie kam das in der Ukraine an?
Auf regierungskritischer Seite war man sehr froh über die Politiker-Boykotte, im Fernsehen wird ständig darüber gesprochen. Im Westen wird unterschätzt, was für eine Auswirkung die haben. Es liegt im Moment tatsächlich viel daran, dass Timoschenko freikommt. Dies hätte eine riesige Symbolwirkung, es wäre dann sehr viel schwerer, andere Personen festzuhalten. Außerdem hat die Regierung furchtbare Angst vor den anstehenden Parlamentswahlen im Herbst. Da könnte Timoschenko auch eine entscheidende Rolle spielen. Dass der Westen ihre Freilassung unterstützt, ist daher äußerst wichtig. Leider hört die Ukraine auf kein anderes Mittel als Geld, und ein Boykott bedeutet eben immer auch einen Einnahmenausfall.
Wie frei sind denn die Medien, um über Timoschenko und die Boykotte zu berichten?
Mangelnde Informationsfreiheit ist nicht das Problem, soweit ich das abschätzen kann. Ich habe tatsächlich relativ liberale Talkshows gesehen, wo die Moderatoren eher regierungskritisch waren. Was bei uns nicht funktioniert, ist Propaganda. Die wird sehr halbherzig betrieben. Jeder weiß über die realen Umstände, aber man kann eben nichts machen. Gerade für die junge aufstrebende Generation, die eine Zeit lang kluge Dinge getan und sich politisch engagiert hat, ist das frustrierend. Sie wandert jetzt nach und nach ab. Wer kann, geht ins Ausland.
Einige aber bleiben und werden Piraten. Sind diese eine große Minderheit?
Es gibt nicht viele Piraten in der Ukraine, auf dem Land praktisch überhaupt keine. Nur in den großen Städten trifft man sie, in Charkow, Donezk, Lwow, in Kiew. Sie sind dafür sehr aktiv und engagiert, jeden Mittwoch kommen sie in Kiew zum Stammtisch in einem Cafe zusammen, in dem sie auch kostenloses W-Lan einrichten wollen. Das ist kaum anders als hier, und das überrascht mich immer wieder an der Piratenkultur, wie ähnlich sie sich weltweit ist. Die ukrainischen Piraten haben es aber nicht geschafft, eine eigene Partei zu gründen, weil man in der Ukraine dafür sehr viel Geld braucht. Die üblichen Parteien gehören Privatpersonen, die Piraten hat man auch schon mehrfach versucht zu kaufen. Im Vergleich dazu leben die deutschen Piraten in vollkommenem Luxus, weil unsere sozialen Umstände eine solche Partei überhaupt erlauben.
Auch viele deutsche Probleme, mit denen sich hier die Piraten befassen, scheinen vergleichsweise luxuriös. Worum kümmern sich denn die ukrainischen Piraten?
Die Piraten dort sind sehr kluge und rationale Menschen, die wissen, was sie nicht erwarten können: nämlich die Ukrainer schlagartig zu demokratisieren. Vielmehr setzen sie auf kleine Schritte. So sorgen sie zuerst auf Hausebene dafür, dass die Bewohner sich organisieren und ihre Hausverwaltung selbst übernehmen. Im Moment herrscht die Kultur vor, dass ich bei einer überquellenden Mülltonne einen Brief an den Präsidenten schreibe. Der Vorsitzende der Piraten sagte mir: "Wir müssen den Leuten Eigenverantwortung beibringen. Und wenn wir das auf Hausebene erreichen, dann können wir das in einem Viertel machen. Wenn wir das in einem Viertel erreichen, können wir es in einer Stadtregion schaffen, dann in einer Stadt, in einer Region und schließlich im ganzen Land." Es geht um demokratische Bildung in erster Linie, weniger um Forderungen nach Systemänderung.
Gibt es auch noch konkretere Projekte?
Die Piraten erstellen zum Beispiel ein kostenloses digitales Schulbuch. Sie vernetzen europäische Schulen mit ukrainischen für Zusammenarbeit und gemeinsames Lernen von Fremdsprachen. Sie installieren freie Software auf Schulrechnern. Mit solchen Projekten bringen sie vor allem den jungen Menschen bei, sich zuerst selbst zu organisieren und sich um seine eigenen Belange zu kümmern, weil das ja im Grunde der Kerngedanke der Demokratie ist: selbst Verantwortung zu tragen. Die ukrainischen Kinder sollen sehen, wie es anders geht. Dass freies Denken und Demokratie möglich sind.
Die Piraten in der Ukraine haben Ihnen einen Ehrenempfang ausgerichtet. Wurden Sie auch von Politikern anderer Parteien empfangen?
Nein, ich hätte es auch vermieden, wenn ich die Chance gehabt hätte. Ukrainische Politiker sind nicht an Austausch interessiert. Das Gesicht der Politik in der Ukraine ist ein gänzlich anderes als hier. Es ist dort alles, alles, alles eine Frage des Geldes.
Das müssen Sie erklären …

Alle nur bezahlt? Eine Pro-Timoschenko-Demonstration in Kiew.
(Foto: REUTERS)
Wenn ich Proteste sehe, bei denen alle einheitliche Fahnen tragen, dann sind die immer gekauft. Ein Politiker kommt, drückt den Menschen rund 50 Hryvnien in die Hand - das sind umgerechnet 5 Euro - und dann geht man auf die Straße, ohne gelesen zu haben, was auf den Transparenten steht. Die ganzen Pro- und Contro-Julia-Demonstrationen sind alle von irgendeiner Seite finanziert.
Und wenn man nicht mitspielt?
Wir haben auch gesehen, was passiert, wenn man eine Demonstration nicht finanziert. Als wir eine Demonstration durchführten, haben wir nicht einmal einen ordentlichen Platz bekommen. Man hat uns einfach hinter ein Gebäude verfrachtet und dort mussten wir bleiben. Für einen besseren Platz hätten wir Geld zahlen müssen.
Ist denn alles so korrupt?
Es ist tatsächlich so, dass fast jeder Polizist auf der Straße ein Schirmherr für irgendeinen Verbrecher ist, für irgendeinen Bettler. Teilweise werden Kinder von Bettlern geklaut und die Polizei steht daneben und deckt das. Es sind Umstände, wie man sie sich hierzulande kaum vorstellen kann. Natürlich spielt auch die Mafia eine gigantische Rolle. Die Donezker Mafia ist omnipräsent. Allein in Kiew hat sie alle Transportunternehmen verdrängt und durch Donezker Transportunternehmen ersetzt.
Können Sie sich denn vorstellen, wieder länger in der Ukraine zu leben?
Nein. Bei dieser Reise habe ich das erste Mal gemerkt, dass ich mich inzwischen in Deutschland heimischer fühle. Man kann es sich schlecht vorstellen, was es heißt, wenn man sich auf der Straße nackt und hilflos vorkommt, weil man kein Geld im Portemonnaie hat und weiß: Ich bin völlig ausgeliefert. Es gibt keine Zivilisation hier, die mich irgendwie schützen würde, solange ich kein Geld habe. Es gibt keinen Schutz vonseiten des Gesetzes. Das ist ein sehr beklemmendes Gefühl, wenn man eine längere Zeit in Deutschland verbracht hat.
Und doch fühlen Sie sich ein bisschen hin- und hergerissen?
Ich fühle mich ein bisschen fahnenflüchtig. Ich würde gerne öfter in die Ukraine reisen und dort auch mehr zur Entwicklung beitragen. Denn letztlich holt die Ukraine im Moment eine Entwicklung nach, die sie in den letzten 70 Jahren verpasst hat. Da gibt es ein weites Tätigkeitsfeld und ich würde dort gerne arbeiten.
Gibt es denn auch etwas in der Ukraine, was Sie hier in Deutschland besonders vermissen?
Es gibt vieles: die Kunst, die Kultur, Gastfreundschaft und Feiern. Das gemeinschaftliche Tanzen, gemeinsame Singen, die Trinksprüche – das alles vermisse ich sehr stark. In Deutschland feiert man sehr ruhig, man kleidet sich selten feiner, man trinkt halt meistens Bier und redet miteinander.
Oder guckt Fußball. Herrscht denn in der Ukraine zur eine Fußballeuphorie?
Bei meinem Besuch habe ich davon nicht viel mitbekommen. Es gab überhaupt nur sehr wenige Anzeichen, dass dort eine EM stattfindet, an einigen Ständen wurden Tassen und Handtücher mit EM-Logo verkauft. Eigentlich ist Fußball im Moment kein großes Thema, schließlich hat man genügend andere Probleme.
Mit Marina Weisband sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de