Zerfall der Ukraine Alles begann auf dem Maidan
21.11.2014, 09:51 Uhr
Konfrontation: Demonstranten stehen im Dezember 2013 auf dem Maidan ukrainischen Sicherheitskräften gegenüber.
(Foto: imago stock&people)
Die Ukraine steht vor den Trümmern des Krieges. Alles begann vor einem Jahr auf dem Maidan. Eine Frau, die damals dabei war, erinnert sich. An jene Tage, als die Ukrainer auf die Straße gingen und nicht mehr nach Hause gehen wollten.
Spricht man mit Yevgenia Belorusets über den Maidan, dann landet sie schnell bei den Taxis. Im Spätsommer 2013 ahnt die Fotografin, dass etwas in der Luft liegt - wegen der Taxifahrer. "Sie treffen viele Menschen und haben einen guten Überblick, was eine Gesellschaft bewegt. Damals haben viele Taxifahrer von einer radikalen Revolution geträumt", erinnert sich Belorusets. Tatsächlich sollten die Hobby-Wahrsager recht behalten. Alles beginnt am 21. November 2013, als die ukrainische Regierung die Verhandlungen über das EU-Assoziierungsabkommen aussetzt.
Tausende ziehen daraufhin auf den Maidan, eine Woche später sind es Zehn-, Anfang Dezember schon Hunderttausende, die gegen Präsident Wiktor Janukowitsch protestieren und seinen Rücktritt fordern. Niemand ahnt damals, dass der Umsturz nur drei Monate entfernt ist. Dass dem Land die schwerste Krise bevorsteht. Ein Jahr später ist die Ukraine kleiner, Russland hat die Krim annektiert, die Ostukraine ist unter der Kontrolle prorussischer Separatisten. Hat sich der Aufstand dennoch gelohnt? Die Frage sei nicht so einfach zu beantworten, sagt Yevgenia Belorusets und will sich in Berlin persönlich treffen. Vielleicht im Café Gorki Park? Nein, bloß kein russisches Café, keine Matrjoschkas, erwidert die Ukrainerin.
Im Herbst vor einem Jahr ist die 34-Jährige aus Kiew mittendrin, als ihre Mitbürger auf die Straße gehen. Die Neugier treibt auch die Fotografin auf den Maidan. Ihre Fotos zeigen, wie die Ukrainer in den Camps leben, wie sie wochenlang auf engstem Raum und in schlecht geheizten Räumen ausharren und schlafen, wie ungemütlich Revolution ist. Auf dem großen Platz sieht sie viele Taxifahrer wieder. Sie bringen Verwundete fort, setzen neue Demonstranten ab. Der Protest fasziniert die junge Frau. Die Ukraine habe keine Protesttradition, in den Schulen gäbe es keine politische Bildung. "Die Menschen haben Wahlen immer als leeres Ritual betrachtet. Niemand hat daran geglaubt, dass sich dadurch etwas ändern kann."
Doch im Dezember tut sich etwas. Die Menschen auf dem Maidan errichten Zelte und Barrikaden, besetzen das Rathaus, blockieren Verwaltungsgebäude. Der zähe Kiewer Winter hat bereits begonnen, aber die Demonstranten weichen nicht. Im Internet werden "Sets für Kundgebungsteilnehmer" verkauft. Thermosflasche, Kühltasche, Regenschirm, Isomatte, Regenmantel, Schlafsack, Feldflasche, Gaskocher und Lebensmittel - für umgerechnet etwa 50 Euro. Immer wieder hört Belorusets von Studenten, die vom Maidan verschwinden. Sie erzählt von einem Freund, der von einem Auto abgeholt wurde. Die Männer haben ihn gewarnt: 'Wenn du wieder kommst, wird deine Mutter nicht mehr lachen.'"
Wer nicht springt, der ist ein Russe
Der Maidan-Aufstand verändert sich, es bleibt nicht lange friedlich. Die Schuld dafür sieht Belorusets auch bei den politischen Parteien, vor allem bei der rechtsextremen Swoboda. "Sie haben es geschafft, ihre Phrasen durchzusetzen, obwohl nur wenige ihre Werte teilen", sagt sie und liefert ein Beispiel. "Ein Swoboda-Mann rief auf dem Maidan: 'Wer nicht springt, der ist ein Russe.' Die Menschen haben das wiederholt. Ihnen war kalt und dann sind sie eben gesprungen." Viele Ukrainer seien stark depolitisiert, könnten den Unterschied zwischen rechts und links nicht versehen, erklärt Belorusets. Die Folge: Anders als in Deutschland funktioniere rechte Rhetorik relativ verdachtlos. Russland habe dies unglaublich gut ausgenutzt. Dabei sei der Maidan ursprünglich gar keine anti-russische Bewegung gewesen.
Die Fotografin ist zunehmend genervt von der Gewalt, der Präsenz der Rechten und der mangelnden Selbstkritik der Protestbewegung. Bis Mitte Januar dokumentiert sie den zermürbenden Kampf. Als die Sicherheitskräfte Mitte Februar auf Demonstranten schießen und fast 100 Menschen bei den Straßenschlachten getötet werden, ist sie nicht mehr vor Ort. Ob der 22. Februar, als Janukowitsch verschwunden ist, ein guter Tag für die Ukraine sei, vermag Belorusets nicht zu beantworten. "Die Feuerwerke des Triumphs sind schnell erloschen", sagt sie. Die Menschen hätten gemerkt: Den Präsidenten waren sie los, aber nicht das System. Den Aufständischen bleibt ohnehin kaum Zeit zur Besinnung zur kommen.
Ende Februar besetzen prorussische Milizen den Regierungssitz auf der Krim. In einem umstrittenen Referendum stimmen angeblich 95 Prozent der Bewohner am 16. März für einen Beitritt zur Russischen Föderation. Im April wiederholt sich das Szenario in der Ostukraine. Separatisten besetzen Verwaltungsgebäude unter anderem in Donezk und Luhansk, gründen unabhängige Volksrepubliken und führen später sogar eigene Wahlen durch. Die neue ukrainische Regierung kann den Abspaltungstendenzen bis heute kaum etwas entgegensetzen.
"Der Mauerfall hätte ein Beispiel sein können"
War es das wert? "Niemand hat erwartet, was nach dem 22. Februar passiert ist. Der Krieg in der Ostukraine und die Besatzung der Krim sind nicht die logische Folge des Maidans", sagt Belorusets. Dennoch räumt sie ein: Besser geht es ihrem Land heute nicht, teilweise ist die Lage sogar komplizierter geworden. Von Janukowitschs Nachfolgern ist sie enttäuscht. Präsident Petro Poroschenko und Premier Arsenij Jazenjuk betrieben eine undurchsichtige Politik, unterstützten antisoziale Reformen und liberalisierten die Wirtschaft.
Anfang November ist Belorusets in Berlin und erlebt die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. "Ich hatte gedacht, dass es bei uns in der Ukraine vielleicht genauso laufen könnte. Es hätte ein Beispiel für uns sein können", sagt sie traurig.
Mittlerweile ist die Fotografin weitergezogen in die Ostukraine. Seit einigen Monaten macht sie Fotos im Donbass, wo Bergleute unter der Erde arbeiten, während über Tage gekämpft wird. Dies seien "die wahren Helden des Krieges". Vor einigen Wochen, erzählt Belorusets, sei sie fast getötet worden. An einem Checkpoint hätten ukrainische Soldaten plötzlich mit durchgeladenen Gewehren auf sie gezielt. Belorusets wählte die Nummer eines Bekannten in der Kiewer Regierung und hielt einem der Männer ihr Handy hin. Dann durfte sie ihre Hände wieder runternehmen.
Die Fotografin, die gut Deutsch spricht, hofft, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Sie müsste sich das nicht noch einmal antun, dennoch will sie wieder zurück in den Donbass. Was ist, wenn wieder etwas passiert? Hat sie keine Angst? Da zuckt Yevgenia Belorusets nur mit den Schultern. "Ich muss dort sein und die Menschen fotografieren."
Quelle: ntv.de