"Einfach weggeprügelt" Als der Stuttgart-21-Protest eskalierte
30.09.2020, 08:54 Uhr
Dietrich Wagner wird am "Schwarzen Donnerstag" von einem Wasserwerfer schwer an den Augen verletzt.
(Foto: dpa)
Die Bilder des "Schwarzen Donnerstags" haben sich in das kollektive Gedächtnis der Stuttgarter eingebrannt. Die Szenen tragen Züge einer Straßenschlacht. Der Protest gegen den Bahnhofsbau eskaliert, es gibt Verletzte und ein politisches Beben. Zehn Jahre ist das her.
Das Foto, das ihn vor genau zehn Jahren schlagartig weltweit bekannt machte, hat Dietrich Wagner nie deutlich gesehen. Er hat an jenem Tag, an dem es aufgenommen wurde, am Tag der Auflehnung gegen das Bauprojekt Stuttgart 21, sein Augenlicht fast völlig verloren. Die Szenen des 30. September 2010 haben die jüngere Stadtgeschichte Stuttgarts geprägt. Sie haben Untersuchungsausschüsse nach sich gezogen und Prozesse, eine Schlichtung, Entschädigungen und Rücktritte. Dennoch wird genau dort, wo vor zehn Jahren die Wasserwerfer standen, wo mehr als 160 Menschen verletzt wurden, weiter gebaut. In fünf Jahren soll der Tiefbahnhof eröffnet werden - trotz des "Schwarzen Donnerstags".

Ein Wasserwerfer spritzt im Stuttgarter Schlossgarten auf Demonstranten, die gegen die geplante Abholzung mehrerer Bäume im Park protestieren.
(Foto: dpa)
Ein Rückblick. Im Sommer 2010 gehen immer wieder Zehntausende Stuttgart-21-Gegner auf die Straße. Ganz Deutschland blickt auf die Schwabenmetropole und deren "Wutbürger", die gegen den Bau protestieren. Am sogenannten "Schwarzen Donnerstag" eskaliert der Konflikt um das milliardenschwere Bahnprojekt. Polizisten traktieren Demonstranten gegen das Bauvorhaben mit Schlagstöcken und Pfefferspray. Wasserwerfer schießen auf Menschen. Bei der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens neben dem Hauptbahnhof werden zahlreiche Menschen verletzt, darunter Wagner, dessen Bild mit blutenden Augen um die Welt geht.
Trauma und Startschuss
Der "Schwarze Donnerstag" war der Höhepunkt des Konflikts um den mittlerweile mehr als acht Milliarden Euro teuren Neubau des Bahnknotens Stuttgart. Für viele der damals Betroffenen war die Eskalation Startschuss für langandauerndes Engagement. Für andere war es das Ende: "Da wurden normale und friedliche Bürger, die sich das erste Mal auflehnten, einfach weggeprügelt", erinnert sich Matthias von Herrmann, Sprecher der sogenannten Parkschützer. "Das hat viele von ihnen traumatisiert."
Nach dem Protest folgte die Schlichtung mit Moderator Heiner Geißler, mit deren Ergebnis die S21-Kritiker noch heute hadern. Aber es folgte mit der Zäsur des "Schwarzen Donnerstags" auch der historische Wahlsieg der Grünen unter Winfried Kretschmann im März 2011 nach mehr als 50 Jahren CDU-Vorherrschaft. Ministerpräsident Stefan Mappus von der CDU musste gehen. "Damals, bei den Wasserwerfern, war mir bereits klar, dass die Landesregierung mit diesen Bildern nicht durchkommt, dass dieser Tag massive Folgen haben wird", sagt Parkschützer von Herrmann.
"Mit Kanonen auf Spatzen geschossen"
Und auch juristisch bekamen die S21-Gegner recht: Der eskalierte Polizeieinsatz führte zu Untersuchungsausschüssen im Landtag und beschäftigte Gerichte. Das Verwaltungsgericht Stuttgart erklärte den Einsatz im November 2015 für rechtswidrig. Beim Protest gegen die Baumrodungen im Schlossgarten habe es sich um eine vom Grundgesetz geschützte Versammlung gehandelt. Die Polizei habe "mit Kanonen auf Spatzen geschossen". Daraufhin entschuldigte sich Kretschmann bei den Opfern, von denen einige wie Wagner Entschädigungen zugesprochen bekamen.
Was folgte nach dem Crash im Schlossgarten, war aber auch der Nackenschlag für die S21-Gegner mit der Volksabstimmung, bei dem sich eine deutliche Mehrheit der Baden-Württemberger für den Weiterbau aussprach. Und gingen zu Hochzeiten rund um den "Schwarzen Donnerstag" noch viele Tausende Menschen auf die Straße, so sind es aktuell Montag für Montag nur noch wenige Dutzend. Auch am Mittwoch, zum zehnten Jahrestag, werden sie zusammenkommen. Unter ihnen auch der heute 75-jährige Wagner, in der Hand einen Blindenstock, zwei gelbe Binden an den Armen.
Quelle: ntv.de, Martin Oversohl, dpa