Karlsruhe kassiert Neuregelung Deutschland ohne Wahlgesetz
25.07.2012, 12:40 Uhr
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Geduld verloren.
(Foto: dpa)
Obwohl die schwarz-gelbe Koalition auf Anweisung des Bundesverfassungsgerichts das Wahlrecht 2011 überarbeitet, ist es weiter mit dem Grundgesetz unvereinbar. Immer noch ist es möglich, dass weniger Stimmen zu mehr Sitzen führen. Eine weitere Schonfrist gibt es nicht: Bis zur Wahl 2013 muss jetzt geliefert werden.
Das Wahlrecht zum Bundestag verstößt gegen das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht erklärt zentrale Bestimmungen zur Verteilung der Abgeordnetensitze für unwirksam. Damit muss noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr ein neues Wahlrecht beschlossen werden. Union und FDP hatten im vergangenen Jahr eine Reform des Wahlrechts im Alleingang durchgesetzt, da es zu keiner Einigung mit der Opposition kam. SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger hatten dagegen in Karlsruhe geklagt.
Bereits 2008 hatten die Karlsruher Richter das frühere Wahlrecht für teilweise erklärt und innerhalb von drei Jahren eine Neuregelung verlangt. So viel Zeit hat der Bundestag nun nicht mehr: "Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren", sagte Verfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle.
Nur 15 Monate für ein neues Gesetz

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Vosskuhle, zeigte sich enttäuscht von der schlechten Arbeit der Koalition.
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Die Bundesregierung habe den Richterspruch "mit Respekt" zur Kenntnis genommen, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter. Mit dem Urteil werde "Klarheit in der rechtlich komplexen und komplizierten Materie des deutschen Wahlrechts geschaffen". Für die anstehende Überarbeitung sei die Bundesregierung aber nicht zuständig: "Das Wahlrecht liegt traditionell in der Hoheit des Parlaments", sagte Streiter. "Wie eine konkrete neue gesetzliche Regelung ausgestaltet wird, prüft und entscheidet der Deutsche Bundestag in eigener Zuständigkeit."
Das Gericht setzte zwar keine konkrete Frist, doch wenn nach dem geltenden Gesetz gewählt würde, wäre die Wahl anfechtbar. Der spätest mögliche Wahltermin ist der 27. Oktober 2013. Ein Sprecher des Innenministeriums ließ offen, was passieren würde, wenn bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2013 kein neues Wahlrecht vorliegen sollte. "Wir gehen davon aus, dass bis dahin ein gültiges Gesetz vorliegt."
Mehr Stimmen führen zu weniger Sitzen
Der Grund für die Verfassungswidrigkeit ist das : Durch die komplizierte Verteilung von Abgeordnetensitzen kann es sein, dass durch ein Mehr an Wählerstimmen eine Partei weniger Sitze im Bundestag erhält. Das hatte das Verfassungsgericht bereits 2008 festgestellt und ein neues Gesetz gefordert, mit dem sich die Koalition viel Zeit nahm. Die dann 2011 in Kraft getretene Regelung wurde nun aber wieder kassiert.
Die Richter kritisierten auch, dass das Wahlrecht die Möglichkeit zahlreicher schaffe. Solche Zusatzmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Sitze im Parlament über Direktmandate gewinnt, als es ihrem Anteil an Zweitstimmen entspricht. Überhangmandate seien zwar nicht grundsätzlich verboten, entschieden die Richter. Es dürften jedoch nicht so viele werden, dass sie "den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben".
Böse Absicht der Koalition?
Die Opposition vermutet hinter dem Vorgehen von schwarz-gelb eine böse Absicht: Die Überhangmandate "verschaffen der Union einen politischen Standortvorteil, für den andere Parteien 1,6 Millionen Wählerstimmen erringen müssen", hatte Thomas Oppermann (SPD) gesagt. Nun freut sich Oppermann über einen "guten Tag für unsere Demokratie und für die Bürgerinnen und Bürger". Die Koalition habe die Quittung dafür bekommen, "dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat." Bei der Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die Union.
Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte, es empfehle sich dringend, zwischen allen Fraktionen im Bundestag "eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden, um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden".
"Konstitutionelle Staatskrise"
"Wir haben jetzt eine konstitutionelle Staatskrise, die die schwarz-gelbe Koalition zu vertreten hat", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, in Karlsruhe. Wenn es zu vorgezogenen Neuwahlen käme, etwa weil die Kanzlerin in der Euro- und Schuldenkrise eine Vertrauensfrage im Bundestag nicht überstehe, gebe es kein gültiges Wahlrecht.
Die Koalition bot der Opposition unverzügliche Gespräche über ein neues Wahlrecht an. "Die Tür zu gemeinsamen Verhandlungen steht weit offen", erklärte der FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert als Reaktion auf das Urteil. Nach seinen Worten wurde mit der Entscheidung in Karlsruhe Rechtssicherheit hergestellt. "Das bewährte deutsche Wahlrecht bleibt in seinen Grundzügen erhalten", erklärte der FDP-Politiker. Die Änderungswünsche des Gerichts seien "technischer Natur und gut umsetzbar". Die FDP werde alles dafür tun, dass das neue Wahlrecht noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet wird.
Quelle: ntv.de, che/dpa/rts