Wie das Skateboard nach Afghanistan kam Das Brett, das die Welt bedeutet
27.11.2011, 10:16 Uhr
Für afghanische Kinder war Skateboarding eine unbekannte Welt.
(Foto: Skateistan)
Ein Australier war es. Oliver Percovich gehört 2007 zu den ersten, die in Kabul mit dem Skateboard unterwegs sind. Bald findet er Mitstreiter, darunter den Deutschen Max Henninger, der als Öffentlichkeitsarbeiter für Entwicklungshilfeorganisationen in das Land gekommen war. Die Idee für Skateistan wird geboren. Die Organisation errichtet die größte Indoor-Halle in Afghanistan, bringt Kindern die Tricks auf dem Board bei. Doch sie bietet auch Medien- und Foto-Workshops an und versucht, Straßenkinder auf den regulären Unterricht vorzubereiten. Im Gespräch mit n-tv.de spricht Henninger über die Vorbehalte bei den Eltern, was die Mullahs von Skateboards halten, aber auch über die sich verschlechternde Sicherheitslage und wie man sich auf den Abzug der internationalen Truppen vorbereitet.
n-tv.de: Skateistan hat die erste Skateboard-Schule Afghanistans gegründet. Wie kam es dazu?
Max Henninger: Skateistan ist eigentlich zufällig entstanden. Oliver Percovich, ein Australier, Gründer und heutiger Direktor von Skateistan, reiste im Februar 2007 nach Afghanistan. Sein Skateboard hatte er im Gepäck. Ich selbst bin seit März 2007 in dem Land und auch begeisterter Skateboarder. Ich traf Oliver kurz darauf und wir fanden auch afghanische Jugendliche, die Interesse am Skateboarden hatten. Zusammen gingen wir raus auf die Straßen und fuhren mit unseren Boards. Sobald wir draußen waren, umringten uns 40, 50 Kinder. Sie interessierten sich dafür, was die "verrückten Ausländer" mit ihren komischen Brettern machen.
Gab es damals bereits Skateboards in Afghanistan?
Nein. Eigentlich war Oliver einer der ersten, der ein Skateboard dabei hatte. Als er nach Afghanistan kam, hatte er auch nicht die Idee, ein Projekt daraus zu machen. Den Ausschlag für Skateistan gab erst das Interesse der Kinder. Wir stellten fest, dass Skateboarding ein perfektes Instrument ist, um mit den Kindern von der Straße in Kontakt zu kommen. Man muss nicht mal die Landessprache sprechen, man kann einfach zeigen, wie es funktioniert. Daraus entstand die Idee für eine Skatehalle, um den Kindern ein sicheres Umfeld zu bieten.
Skateboarding kommt aus den USA. Wird das von den Kindern auch so wahrgenommen? Gibt es da Vorbehalte?
Wir hatten deswegen anfangs große Bedenken, weil das Bild der US-Amerikaner in Afghanistan nicht das beste ist. Wir haben aber den Vorteil, dass Skateboarding dort völlig unbelastet ist. Es ist etwas komplett Neues und die Verbindung zu den USA ist deshalb kaum bekannt. Kritiker werfen uns vor, dass wir Kulturimperialismus betreiben. Aber den gesamten Habitus des Skateboardings, auch den Markencharakter, den es im Westen angenommen hat, versuchen wir außen vor zu lassen. Die Mädchen zum Beispiel skaten in ihrer Landestracht, in bunten Gewändern. Allerdings tragen sie einen Helm und Knieschoner. Mit dem Skateboarden, wie wir es kennen, hat Skateistan wenig zu tun. Wir wollen den Kindern einfach eine Möglichkeit geben, sich sportlich und kreativ zu entfalten.
Wie viele Mädchen sind denn bei Skateistan dabei?
30 Prozent der Kinder sind Mädchen. Deren Förderung ist uns besonders wichtig. Dazu muss man sehr transparent sein. Wir haben zum Beispiel nur weibliche Lehrer für Mädchenklassen. Wir wollen damit den Mädchen einen Freiraum schaffen, in dem sie sich so geben können, wie sie sind.
Die Kurse sind getrennt zwischen Mädchen und Jungen?
Ja, das ist so gewünscht, sowohl von den Eltern, aber auch von den Mädchen selbst. An drei Tagen in der Woche gibt es Kurse für Jungs, an zwei Tagen Kurse für Mädchen.
Aus welchen Projekten besteht Skateistan heute?
Zunächst haben wir eine Skatehalle auf 1800 Quadratmetern gebaut. Es ist die größte Indoor-Sporthalle des Landes. Sie wurde zum großen Teil vom Auswärtigen Amt finanziert. Offiziell wurde die Halle am 29. Oktober 2009 eröffnet. Seitdem läuft der Betrieb für 400 Kinder zwischen 5 und 19 Jahren. Außerdem haben wir inzwischen eine Kletterwand und neuerdings auch Platz für Volleyball, Basketball, Fußball und Badminton.
Aber es geht nicht nur um Sport, oder?
Unser Anspruch war von Anfang an, einen Mehrwert für die Kinder zu schaffen. Im Skatepark haben wir deshalb auch zwei Klassenzimmer. Dort bieten wir Programme an, bei denen sich die Kinder kreativ entfalten können. Wir haben zum Beispiel Medien- und Foto-Workshops, Kunstkurse, wir beschäftigen uns mit Theater und so weiter. Das alles wird in den regulären Schulen nicht geboten. Wir wollen aber kein Schulersatz sein, Skateistan versteht sich eher als Jugendzentrum. Die Kinder müssen dafür nichts bezahlen. Um gerade von konservativen Eltern akzeptiert zu werden, bieten wir außerdem einen Koran-Unterricht an.
Gab es Vorbehalte bei den Eltern gegen das Skateboarding?

Max Henninger, Vize-Direktor von Skateistan, arbeitet seit 2007 in Afghanistan.
(Foto: privat)
Bei 400 Kindern gibt es natürlich Vorbehalte, aber bisher haben wir positive Erfahrungen gemacht. Am schwierigsten ist es mit den Eltern der Straßenkinder, die etwa die Hälfte unserer Kinder ausmachen. Diese Familien sind meist traditionell und konservativ, aber eben auch sehr arm. Statt in die Schule schicken sie ihre Kinder auf die Straße, um zu betteln oder Geld zu verdienen, etwa indem sie Autos waschen. Probleme lassen sich aber oft aus der Welt schaffen, wenn man die Eltern einlädt und ihnen zeigt, was eigentlich bei Skateistan passiert. Dazu gibt es regelmäßig Veranstaltungen, Tage der offenen Tür und Elternabende. Der Koran-Unterricht zum Beispiel ist durchaus ein Anreiz, die Kinder zu uns zu schicken. Außerdem haben wir unser "Back to School"-Programm mit derzeit etwa 56 Kindern. Damit wollen wir Straßenkinder auf den regulären Schulunterricht vorbereiten. Das ist kostenlos und für diese Familien attraktiv, weil sie für die reguläre Schule Uniformen kaufen müssten, Schulmaterialien, Bücher und so weiter.
Ein erklärtes Ziel von Skateistan ist, Kinder aus verschiedenen Ethnien und Schichten zusammenzubringen und Vorurteile abzubauen. Gelingt das?
Bei uns spielt es keine Rolle, ob jemand Paschtune ist, Tadschike, Usbeke oder Hazara. Aber es gibt natürlich Konflikte. Vertrauen untereinander zu schaffen, ist kein kurzfristiger Prozess, das braucht Zeit. In unserer ersten Mädchenklasse zum Beispiel gab es Straßenkinder und Kinder aus gutsituierten Familien. Die haben sich nicht gegrüßt, nicht angeschaut. Nach sechs Monaten haben sich aber Freundschaften gebildet. Jetzt küssen sich die Mädchen zur Begrüßung auf die Wange. Sie haben gemerkt, dass die anderen die gleichen Probleme, Wünsche, Ziele, Träume haben wie sie selbst.
Skateistan versteht sich als neutrale Entwicklungsorganisation. Wie schwierig ist es, das praktisch umzusetzen? Muss man permanent mit Stammesführern und religiösen Führern im Dialog sein?
Dafür sind wir eigentlich zu klein. Aber zum Beispiel haben wir uns vor Eröffnung der Skatehalle rückversichert. Wir nahmen Kontakt mit den religiösen Führern der Sunniten und Schiiten in Kabul auf. Beide bestätigten uns, dass Sport – auch für Mädchen – im Einklang mit dem Koran steht. Der sunnitische Mullah Shams Rahman kam sogar zur Eröffnung der Halle. Ansonsten arbeiten wir sehr eng mit dem Nationalen Olympischen Komitee Afghanistans zusammen, das uns auch das Gelände zur Verfügung stellte. Wir pflegen darüber hinaus Kontakte zu den afghanischen Ministerien. Wichtig ist auch, in die Öffentlichkeit zu gehen. Unsere Veranstaltungen wie der "Go Skateboarding Day" werden zum Beispiel gern in den afghanischen Medien aufgegriffen, auch Parlamentarier besuchen uns. Vor allem braucht man aber ein funktionierendes Netzwerk, man braucht Fürsprecher und Rückhalt.
Inzwischen wächst Skateistan auch über Kabul hinaus? Was gibt es da für Projekte?

Eine Zeichnung aus dem Kunstkurs: Die Kinder träumen von einer sauberen, sicheren Umwelt.
(Foto: Skateistan)
Derzeit bauen wir eine weitere Halle in Masar-i-Sharif in Nordafghanistan, die zu 100 Prozent vom Auswärtigen Amt finanziert wird. Dort sind ja auch deutsche Truppen stationiert. Wir hatten auch Anfragen, nach Kandahar in Südafghanistan zu gehen. Aber dafür fehlt uns der finanzielle Rückhalt, denn im Süden braucht man mehr Mittel für Sicherheitsmaßnahmen. Ohnehin ist es schwierig, zu expandieren, weil selbst in Kabul kaum die Infrastruktur vorhanden ist, um ein internationales Büro am Laufen zu halten. Einen sehr kleinen Ableger von Skateistan gibt es in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Ein weiteres Projekt entsteht in Kambodscha. In Phnom Penh bauen wir kommendes Jahr den ersten Skatepark.
Sie sind seit 2007 in Afghanistan. Hat sich das Sicherheitsgefühl in dieser Zeit verändert?
Ehrlich gesagt, 2007 war die Lage noch sehr viel entspannter. Die Sicherheitslage hat sich seitdem kontinuierlich verschlechtert. Die terroristischen Attacken werden zudem immer professioneller. Sie finden auch in Bezirken von Kabul statt, die eigentlich als sicher gelten, etwa in der Grünen Zone. Der Angriff auf die US-Botschaft und das ISAF-Hauptquartier etwa war in der Nähe des Skateparks. Wie saßen während der Kämpfe 20 Stunden lang fest. Außerdem sind die Menschen einfach frustriert, weil sich in den zehn Jahren seit Kriegsbeginn so wenig getan hat. Deutschland und andere Länder haben viele Milliarden Euro investiert, trotzdem ist kaum etwas vorzeigbar. Viel konzentriert sich auf die Ballungszentren: Kabul, Herat, Mazar-i-Scharif, Kundus. Aber in den Provinzen gibt es fast gar nichts. Einerseits sind die Afghanen zwar froh, wenn die internationalen Truppen 2014 das Land verlassen. Andererseits versuchen viele Menschen, selbst aus dem Land zu kommen, weil sie nicht wissen, was 2014 passiert und sie Angst vor einem neuen Bürgerkrieg haben.
Gibt es für Skateistan eine Exit-Strategie für die Zeit nach 2014?
Wir sind sehr gespannt, wie es danach aussieht. Ich bin etwas pessimistisch, weil man nicht absehen kann, wie sich die Lage entwickelt. Deshalb schulen wir derzeit unsere langjährigen afghanischen Mitarbeiter, damit sie das Projekt gegebenenfalls für sechs oder zwölf Monate allein weiterführen können, falls wir Ausländer aufgrund der Sicherheitslage ausreisen müssen. Andererseits wollen wir langfristig natürlich ohnehin das Land verlassen. Unser Projekt ist auf zehn Jahre angelegt, danach sollten unsere afghanischen Kollegen das Projekt selbst führen. Aber niemand kann sagen, was nach 2014 passiert. Wenn zum Beispiel die Taliban zurückkommen, könnte es sein, dass wir weitermachen, allerdings ohne Mädchen. Oder wir müssen dichtmachen, weil Skateboarding zu amerikanisch ist.
Der deutsche Verein, der Skateistan unterstützt, ist unter www.skateistan.de erreichbar.
Mit Max Henninger sprach Markus Lippold.
Quelle: ntv.de