Politik

Antikriegsproteste in Russland Das "Gewissen von St. Petersburg"

Das Putin-Regime fühlt sich offenkundig von älteren Damen bedroht: Jelena Ossipowa wird am 2. März von behelmten Polizisten abgeführt.

Das Putin-Regime fühlt sich offenkundig von älteren Damen bedroht: Jelena Ossipowa wird am 2. März von behelmten Polizisten abgeführt.

(Foto: REUTERS)

Eine kleine alte Dame prangert seit mehr als 20 Jahren unerschrocken mit selbstgemalten Plakaten die Missstände in Putins Russland an. Auch nach dem Überfall auf die Ukraine zieht Jelena Ossipowa auf die Straße.

Es waren Bilder nach dem Geschmack der Kreml-Propagandisten: Tausende Menschen, die sich am Freitag im und um das Luschniki-Stadion in Moskau versammelten, um bei patriotischen Liedern mit russischen Fahnen zu schwenken und Putin und seine Rede zu bejubeln. Ein vor Patriotismus trunkenes Land, das hinter seinem Präsidenten und der "militärischen Spezialoperation" steht, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine vom Kreml verharmlosend genannt wird. Das sollte die Botschaft der Bilder sein, nicht nur im Inneren, auch für das Ausland.

Trotz dieser Jubelbilder und Repression gibt es auch das andere Russland. Zu dessen bekanntestem Gesicht wurde die Journalistin Marina Owsjannikowa, die während der abendlichen Hauptnachrichtensendung des russischen Staatfernsehens ein Antikriegsplakat ins Bild hielt. Im ganzen Land gibt es mutige Menschen, die seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine am 24. Februar gegen diesen Krieg protestieren. Sowohl in größeren Gruppen als auch durch Einzelaktionen. Nicht selten reicht dabei schon ein in die Höhe gehaltenes leeres Blatt Papier, um von der Polizei verhaftet zu werden.

Eine der regelmäßigen Teilnehmerinnen dieser Proteste ist Jelena Ossipowa. Am 27. Februar ging sie in ihrer Heimatstadt St. Petersburg auf die Straße, um gegen die Invasion zu protestieren. Ebenso am 2. März, am 11. und zuletzt am 13. März, als auf einem ihrer selbstgemachten Plakate "Putin, das ist Krieg" zu lesen war. Jedes Mal endete für Ossipowa der Protest mit einer Festnahme durch die Polizei.

Sie protestiert, seit Putin an der Macht ist

Jelena Ossopiwa ist nicht irgendeine Demonstrantin. In sozialen Netzwerken und Presseberichten über ihre jüngsten Festnahmen wird sie oft als "Blokadnitsa" bezeichnet, als Überlebende der Blockade von Leningrad. Was jedoch nicht stimmt: Das genaue Geburtsdatum von Ossipowa ist zwar nicht bekannt, gesichert ist jedoch, dass sie 1945 in Leningrad, wie St. Petersburg damals hieß, zur Welt kam. Die Leningrader Blockade, ein während des Zweiten Weltkriegs begangenes und hierzulande wenig beachtetes deutsches Kriegsverbrechen, durch das rund eine Million Zivilisten ums Leben kamen, endete im Januar 1944. Autoren des deutschen Wikipedia-Artikels über Ossipowa gehen davon aus, dass die falsche Bezeichnung auf eine Verwechslung zurückzuführen sei und verweisen dabei auf einen Text über die 80-jährige Ljudmila Wassiljewa, die tatsächlich eine Überlebende der Blockade ist und am 24. und 27. Februar bei Antikriegsprotesten in St. Petersburg festgenommen wurde. Das klingt einleuchtend, dürfte aber falsch sein, denn Ossipowa wird seit Jahren auch von vielen russischen Medien "Blokadnitsa" genannt.

Auch wenn die heute 77-Jährige keine Überlebende der Leningrader Blockade ist, spielt diese Tragödie in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Wie so viele St. Petersburger, hat auch sie mit ihrem Großvater einen Familienangehörigen während der Blockade verloren. Im Januar 2019, zum 75. Jahrestag des Blockade-Endes, sorgte sie mit einem Graffiti für Aufsehen. Es zeigt ein dürres Mädchen in zu großen Filzstiefeln, das einen Schlitten mit einer Leiche zieht und in der anderen Hand einen Zettel hält mit der Aufschrift "Kein Brot". Gemalt hat sie es am ehemaligen Wohnhaus ihrer älteren Freundin und bekannten Malerin Lenina Nikitina. Ossipowa selbst studierte an einer Kunstschule, arbeitete als Kunstpädagogin und ist bis heute als Malerin aktiv.

Noch bekannter als dieses Graffiti sind aber mittlerweile die von ihr gemalten Plakate, mit denen Ossipowa bei Protestaktionen erscheint. In ihrer Heimatstadt haben Aktivisten diesen sogar eine Ausstellung gewidmet. Zudem erschien ein Bildband mit ihren Protestaktionen. Ossipowas Plakate, die sich gegen Korruption, Machtmissbrauch, Gewalt und Krieg richten, sind ein Spiegelbild der mittlerweile seit 22 Jahren andauernden Regierungszeit von Wladimir Putin.

"Ich habe nicht verstanden, warum die Leute schweigen"

Denn das öffentliche Engagement von Jelena Ossipowa begann mit der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002, einer der ersten Tragödien der Putin-Ära. Damals nahmen 50 bewaffnete Tschetschenen 850 Personen als Geiseln und verlangten den Rückzug der russischen Armee aus Tschetschenien. Bei der Erstürmung des Theaters, bei der die Einsatzkräfte ein bis heute nicht genau identifiziertes Gas verwendeten, starben 130 Geiseln. "Ich habe nicht verstanden, warum die Leute schweigen. Ich habe nicht verstanden, warum die jungen Menschen ganz schweigen", sagte sie über ihre damaligen Beweggründe in einem Dokumentarfilm von 2018.

Ein weiteres einschneidendes Erlebnis war für Ossipowa die Geiselnahme von Beslan, als nordkaukasische Terroristen in einer Schule über 1000 Kinder und Erwachsene in ihre Gewalt nahmen. Auch die Erstürmung der Schule durch Sicherheitskräfte endete in einer Tragödie, bei der laut offiziellen Angaben 331 Geiseln ums Leben kamen. Es folgten Proteste gegen den Irakkrieg, gegen den russischen Militäreinsatz in Syrien oder zur Unterstützung politischer Häftlinge. Ossipowa gehört zu den wenigen Menschen in Russland, die das Wort "Krieg" auch mit Bezug auf die Krim-Annexion und den bewaffneten Konflikt in der Ostukraine seit 2014 benutzen. Das missfällt nicht nur der Obrigkeit. Auch von Passanten wird sie immer wieder beschimpft. "Unseren Präsidenten kann sie nicht ausstehen. Den einzigen anständigen Menschen und kein Trunkenbold", hört man zum Beispiel in einem Video eine Frau über Ossipowa schimpfen.

Weder durch die seit 2007 regelmäßigen Festnahmen noch durch die Anfeindungen einiger Bürger ließ sich Jelena Ossipowa von ihrem Weg abbringen. Bewunderer nennen sie das "Gewissen von St. Petersburg". Mit jedem ihrer weiteren Proteste gegen den Krieg in der Ukraine, die von ihr zu erwarten sind, könnte die alte Dame zum Gewissen von Russland werden.

Quelle: ntv.de

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