Ausschreitungen in Jerusalem "Das ist der Weg zur Hölle"
06.11.2014, 20:22 Uhr
Tempelberg in Jerusalem: Die empfindlichste Stelle der Weltreligionen und der Weltpolitik.
(Foto: REUTERS)
Drei Attentate innerhalb von zwei Wochen: In Jerusalem wächst die Angst vor der dritten Intifada. Der palästinensische Poet Marwan Makhoul verurteilt im Interview mit n-tv.de die Anschläge, warnt aber davor, mit den Provokationen auf dem Tempelberg fortzufahren.
n-tv.de: Seit Wochen herrschen in Jerusalem starke Spannungen, die sich immer wieder in tödlichen Zwischenfällen entladen, wie etwa bei dem Anschlag auf den Ultranationalisten Jehuda Glick und der anschließenden Erschießung des tatverdächtigen Palästinensers. Befürchten Sie auch eine "Jerusalem-Intifada"?
Marwan Makhoul: Das Thema beschäftigt mich natürlich sehr. Ich bin nicht gläubig, aber auch für mich ist das, was in Jerusalem passiert, eine Provokation. Israel hat so viel Platz. Warum muss es ausgerechnet der kleinste Teil, der den Muslimen geblieben ist, der Ort, wo sie beten, sein? Was soll das bringen? Was für ein Frieden soll da entstehen? Wohin will dieser Mann, dieser Träumer, der sich Bibi Netanjahu (der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, Anm. der Redaktion) nennt, sein Volk führen? Zur Erlösung oder zur Hölle? Ich glaube, dass das der Weg zur Hölle ist. Denn er provoziert eine Milliarde Muslime.
Aber Attentate können keine Antwort sein.
Marwan Makhoul ist ein palästinensischer Poet. Er lebt in Ma’alot im Norden Israels und leitet dort auch ein Bauunternehmen. Der 1979 geborene Dichter gilt als Wiederbeleber der arabischen Poesie-Kultur. Makhouls Bücher und Theaterstücke sind nicht nur in der arabischen Welt preisgekrönt, sein Buch "Land der traurigen Passiflora" wurde 2011 ins Hebräische übersetzt, seine Gedichte zudem noch in Englisch, Türkisch, Italienisch, Deutsch, Französisch, Serbisch und Hindi. Sein Thema ist der Alltag in seiner politisch brisanten Heimat, wie im Gedicht "Ein Araber am Ben-Gurion-Airport": "Sie sagte/ Haben Sie irgendwelche scharfen Objekte bei sich?/ Nur meine Gefühle, antwortete ich."
Auch wenn ich ihren Glauben nicht teile, verstehe ich, warum sie sich provozieren lassen. Deshalb stimme ich zwar überhaupt nicht mit dem Attentäter, der Jehuda Glick angeschossen hat, überein. Aber ich verstehe ihn. Dieser Mann, dem die Al-Aqsa-Moschee das Wichtigste im Leben ist, wurde an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Wir reden die ganze Zeit über den extremistischen Islam. Die israelische Regierung hat aber den sogenannten extremistischen Islam erst geboren. Die Hamas ist etwa nur so stark geworden, weil Israel diejenigen, die Frieden wollten, nicht mit Respekt behandelt hat. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas droht Israel nicht und gilt als Extremist. Das verstehe ich alles nicht. Ich glaube, dass Israel sich mit dieser Politik vor allem selbst schadet. Die Welt respektiert die israelische Regierung nicht für ihr Handeln und das israelische Volk versteht meiner Meinung nach nicht, was wirklich passiert.
Der israelische Präsident Reuven Rivlin versucht derzeit neue Wege zu gehen. Er hat etwa als erstes Staatsoberhaupt Kafr Kassem besucht, den Ort eines 1956 verübten Massakers. Wie beurteilen Sie seine Bemühungen?
Ich glaube, dass dieser Besuch nach fast 60 Jahren sinnlos war, denn dieser Mann hat sich nicht entschuldigt. Wozu ist er dann überhaupt gekommen?
Rivlin hat das Massaker als abscheuliches Verbrechen bezeichnet.
Rivlin wollte die Gemüter beruhigen, aber ohne sich zu entschuldigen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sich irgendjemand jemals bei einem kleinen Dorf entschuldigt hat, schon gar nicht nach 60 Jahren.
Was ist mit der Erklärung Rivlins, dass es keinen anderen Weg gibt, als das Palästinenser und Israelis zusammenleben?
Es gibt keinen anderen Weg, da stimme ich ihm zu. Aber um zusammenleben zu können, muss die arabische Minderheit, diese 1,5 Millionen Menschen, all ihre Rechte bekommen. Ich höre immer: Ihr müsst die Nation spüren, ihr müsst der Nation etwas geben. Das belustigt mich immer wieder. In der ganzen Welt muss der Staat seinen Bürgern dienen und nicht andersherum. Der Staat muss mir etwas geben. Wenn er mir nichts gibt, wie soll ich mich dann als Teil von ihm fühlen?
Was soll der israelische Staat Ihnen geben?
Frieden. Frieden mit den Palästinensern. Denn ich kann nicht unterscheiden zwischen mir und den Palästinensern. Wir sind eins. Man kann nicht aufgrund einer Entscheidung im Jahre 1948 sagen, dass ich plötzlich ein Israeli bin. Ich habe die israelische Staatsbürgerschaft. Aber ich bin auch Palästinenser. Ich glaube auch nicht mehr an die Zwei-Staaten-Lösung.
Sondern?
Ein Staat. Denn diese Lösung für alle löst auch mein persönliches Problem. Zudem leben Juden in arabischen Gebieten und Araber in jüdischen. Es gibt keinen Platz mehr.
Ich bin aber nicht damit einverstanden, dass im Falle einer Ein-Staat-Lösung alle Rechte und Vergünstigungen nur an die jüdischen Staatsbürger gehen, ich will, dass mein Volk auf demselben Niveau lebt. Es kann keinen demokratisch-jüdischen Staat geben. Aus taktischen Gründen wird immer das demografische Problem vorgeschoben. Ich verstehe, dass es für die Juden Gründe für einen jüdischen Staat gibt. Aber alle Organe zu besetzen und das dann Demokratie zu nennen; zu sagen, wir sind demokratisch, aber mit Ausnahmen, das ist ein Witz. Ich bin für einen demokratischen Staat, in dem auch ein Araber Regierungschef sein kann. Wenn Frieden wäre, ginge davon keine Gefahr aus.
Aber ich glaube, es wird sehr schwer, überhaupt einen Friedensprozess einzuleiten. Ich sehe keinen Politiker, der so stark ist, wie Rabin es war (Jitzchak Rabin, ehemaliger Ministerpräsident, ermordet im Jahr 1995, Anm. der Redaktion). Der jüdische Fundamentalist, der Rabin ermordet hat, hat auch den Frieden ermordet.
In einem Interview mit der israelischen Zeitung "Ha’aretz" sagten Sie, dass der Nahostkonflikt Sie zweimal trifft: Wenn in Gaza Krieg ist oder auf der Dizengoff-Strasse in Tel Aviv ein Terroranschlag verübt wird. Das war 2012. Hat sich daran nach diesem Sommer etwas geändert?
Natürlich nicht. Jeder Mensch, der nicht mitfühlt, wenn den einfachen Menschen auf der Straße etwas passiert, ist kein Mensch. Das ist etwas völlig anderes, als wenn ich über politische Probleme, die das palästinensische Volk betreffen, spreche.
Mit Marwan Makhoul sprach Samira Lazarovic
Quelle: ntv.de