Politik

Interview zum Erfolg der AfD "Der Osten muss mit den Lebenslügen brechen"

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Eine Pegida-Demo im Herbst 2018.

(Foto: AP)

Ostdeutschland brauche eine Debatte, wie die alte Bundesrepublik sie in den 1960er-Jahren hatte, fordert der aus Leipzig stammende Politikwissenschaftler Michael Lühmann. "Die Ostdeutschen müssen diese Debatte führen, und sie müssen sie ehrlich, offen und hart führen."

n-tv.de: Häufig wird gesagt, die Erfahrungen der Ostdeutschen aus der DDR, aus der Wendezeit und im wiedervereinigten Deutschland seien die Ursache für die Wahlerfolge der AfD. Sie bestreiten das.

Michael Lühmann: Jedenfalls teilweise.

Ist es nicht nachvollziehbar, dass eine Sozialisation in der DDR viele Menschen anders prägt - nicht alle und nicht zwangsläufig, aber manche eben doch?

Ja, eine Sozialisation in der DDR bringt eine Prägung mit sich. Was aber am deutlichsten nachwirkt von dieser Sozialisation ist, dass man auf dem rechten Auge relativ blind geblieben ist. Es gibt in Ostdeutschland rechte Kontinuitäten, die bis in die DDR zurückreichen und bis heute ignoriert werden.

Zum Beispiel?

Die Generation der um 1970 Geborenen, die letzten Kinder der DDR, sind bereits vor 1989 vom antifaschistischen Konsens abgerückt. Dieselbe Generation bildet heute die Kernkohorte der AfD, vor allem die Männer. Das ist eine lange Linie, die in den 90er-Jahren verstärkt wurde: durch den damals grassierenden Rechtsextremismus auf der Straße, sicherlich auch durch Umbrucherfahrungen und Verlusterfahrungen, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Der Punkt ist allerdings: Der Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist nicht 1989 entstanden. Pogrome wie im September 1991 in Hoyerswerda beziehungsweise deren Vorläufer gab es in der DDR schon in den 1980er-Jahren. In den Fußballstadien der DDR gab es eine starke rechte Szene, in der Hitler-Grüße gezeigt und nationalsozialistische Sprüche gerufen wurden. Was wir an rechten Protesten in Cottbus sehen, in Chemnitz, anfänglich bei Pegida oder kurzzeitig bei Legida in Leipzig, das kommt und kam auch heute immer wieder aus den Fanszenen dieser Vereine.

Sowohl in der DDR als auch in der wiedervereinigten Bundesrepublik wurde diese Form des Rechtsextremismus verharmlost - in der DDR als "Rowdytum", in der Bundesrepublik mit Sprüchen wie vom sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien "immun" gegen Rechtsextremismus - obwohl die NPD es in den Nullerjahren in den sächsischen Landtag schaffte.

Sie werfen der sächsischen CDU Verharmlosung vor.

Bei der NPD war in der politischen Auseinandersetzung wenigstens klar, dass das eine rechtsradikale Partei ist. Mit der AfD kam dann ein neuer Akteur ins Spiel, der nicht von vornherein als das benannt wurde, was er ist, nämlich ein radikal rechter Akteur. Die CDU überall im Osten, aber gerade in Sachsen, hat eher ihr Heil darin gesucht, der AfD hinterherzulaufen. Das hat zur Normalisierung ein ganzes Stück beigetragen.

Waren die massiven Umbrüche der Wendezeit nur ein Verstärker? Hat Angst vor Jobverlust oder die Erfahrung von Langzeitarbeitslosigkeit nicht auch Traumatisierungen bei vielen ausgelöst, und damit Wut auf einen Staat, der sie davor nicht beschützt?

Mit Sicherheit ist das passiert. Wir können es ja auch derzeit beobachten, bei der aktuellen Auseinandersetzung in Ostdeutschland mit den 1990er-Jahren. Viele stellen die Frage: Was ist damals passiert - mit der Treuhand, mit unseren Jobs, mit unserem Leben? Der Ärger darüber lagert sich heute nicht mehr bei der Linkspartei ab, sondern bei der AfD.

Aber bei diesem Thema darf man nicht vergessen: Die Ostdeutschen haben das alles so gewollt. Sie wollten Helmut Kohl, sie wollten die Treuhand, zumindest haben sie die Parteien, die das Vorgehen der Treuhand politisch gestützt haben, immer wieder gewählt. In Sachsen wurde trotz Treuhand weiter Biedenkopf gewählt, 56 Prozent 1994, 54 Prozent 1999. Es stimmt, dass die ostdeutsche Wirtschaft kaputt ging. Aber die Ostdeutschen wollten nach 1990 keine Ostprodukte mehr kaufen. Wenn also Ostdeutsche heute einen Schuldigen für ihre Situation suchen, dann suchen sie leider viel zu selten bei sich selbst.

Wie könnte die Politik darauf reagieren? Es wird ja kaum helfen, den Ostdeutschen zu sagen: Hört mal her, ihr seid an eurer Situation selbst schuld.

Mit Lebenslügen zu brechen, ist hochkompliziert, das ist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess. Der wird auch nicht jeden überzeugen. Aber ich bin absolut sicher, dass es funktionieren kann. Die 1960er-Jahre waren in der Bundesrepublik eine Zeit, in der eine schmerzhafte Debatte über die eigene Vergangenheit geführt wurde. Das hat vielen wehgetan und hat die Gesellschaft aufgewühlt. Es hat auch das Parteiensystem durchgerüttelt. Aber am Ende stand eine fundamental liberalisierte Bundesrepublik. Ich glaube, eine solche Debatte braucht der Osten auch. Was ihm jedenfalls nicht hilft, ist, sich weiter in eine Opferpose zu begeben. Die Ostdeutschen müssen diese Debatte führen, und sie müssen sie ehrlich, offen und hart führen.

Wir sehen ja, dass die politische Kultur vor Ort etwas ändert. In Leipzig ist die AfD relativ schwach, weil die Politik sich dort seit Jahrzehnten klar positioniert. Wenn in Leipzig Rechtsradikale demonstrieren, dann steht die Stadtgesellschaft auf und die städtische Politik unterstützt das. In Dresden und Cottbus ist das nicht so, und auch in Chemnitz nur sehr bedingt. In Rostock steht die AfD bei 12,4 Prozent, in Cottbus bei 24,6 Prozent. Das ist beides Ostdeutschland. Aber es gibt vor Ort eine andere lokale politische Kultur. Gerade in Mecklenburg-Vorpommern gibt es inzwischen ein hinzutretendes Gefühl, nicht in erster Linie ostdeutsch, sondern auch norddeutsch zu sein. Das verändert auch den Umgang mit der Vergangenheit.

Welche Rolle spielt die Abwanderung? Frank Richter hat mal gesagt, dass in den Dörfern Sachsens teilweise eine Stimmung wie in einer "Männer-WG" herrsche, weil vor allem die Frauen weggezogen sind.

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Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er ist gebürtiger Leipziger.

(Foto: privat)

Es ist nicht nur der Wegzug der jungen Frauen. Untersuchungen zeigen, dass junge Frauen auch in Ostdeutschland deutlich weniger AfD-affin sind. Übrig bleiben die mittelalten bis alten Männer. Das ist die Kernwählerschaft der AfD. Um so stärker ist die Partei in Regionen, in denen diese Gruppe besonders stark vertreten ist. Für diese Gegenden ist das ein Teufelskreis. Sie werden unattraktiv, sowohl für die Weggezogenen, die nicht zurückkommen, als auch für Migranten. Es ist doch kein Wunder, dass Chemnitz ein Pflegeproblem hat: Nicht wenige Pflegerinnen und Pfleger haben heute einen Migrationshintergrund. Aber wer geht denn freiwillig mit Migrationshintergrund nach Chemnitz?

Aber wir dürfen nicht vergessen: Es gibt immer noch 75 Prozent in Ostdeutschland, die nicht AfD wählen. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass die AfD in Teilen Ostsachsens 30 bis 40 Prozent erreicht und in manchen Wahlkreisen an die 50 Prozent herankommt.

Was müsste geschehen, um die AfD in Ostdeutschland zu einer Kleinpartei zu machen? Würde es helfen, die Regionen mit Geld zu überschütten, wie das ja beim Kohleausstieg geplant ist?

Ein Stück weit hilft Geld natürlich immer. Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik: Die Demokratisierung der Westdeutschen war nicht allein ein Erfolg der alliierten Reeducation, sondern auch des Marshallplans. Man könnte also sagen, das überträgt man jetzt einfach auf den Osten: Wir stecken da Geld rein und machen verstärkt politische Bildung, dann wird das schon.

Dass Geld so viel helfen würde, bezweifle ich aber mittlerweile. Was Einkommen angeht, ist Chemnitz wesentlich besser gestellt als Rostock. Geld wird also nicht reichen. Was wir brauchen, ist massive politische Bildung. Das gilt auch für die Politik: Wenn Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagt, bei der Europawahl hätten zwei Parteien mit Absolutheitsanspruch gewonnen, die Grünen und die AfD, dann zeigt das, was für ein Riesenproblem dieses Bundesland noch immer mit der Verharmlosung von Rechtsradikalismus hat. Wir brauchen eine Haltung vor Ort, eine Haltung der Politik - keine Anbiederung.

Mit Michael Lühmann sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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