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Heikler Parteitag startet Die grüne Trutzburg wackelt

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Baerbock und Habeck auf dem digitalen Parteitag im Januar 2022. In Karlsruhe stellen sie sich nicht zur Wiederwahl in den Parteirat - damit entgehen sie auch einer Bewertung ihrer Arbeit durch die Basis.

Baerbock und Habeck auf dem digitalen Parteitag im Januar 2022. In Karlsruhe stellen sie sich nicht zur Wiederwahl in den Parteirat - damit entgehen sie auch einer Bewertung ihrer Arbeit durch die Basis.

(Foto: imago images/Chris Emil Janßen)

Vier Tage lang wollen die Grünen über ihren Kurs diskutieren, ihre Parteiführung im Amt bestätigen sowie Programm und Kandidaten für die Europawahl festzurren. Der Mammutparteitag fällt mit der nächsten großen Ampel-Krise zusammen. Die Partei muss zusammenrücken, doch die internen Fliehkräfte wachsen.

Zwei Jahre sind auch außerhalb der Politik eine lange Zeit, doch den Grünen muss der kleine Parteitag Ende November 2021 wie eine Ewigkeit her erscheinen. Nach einem kräftezehrenden Bundestagswahlkampf war das Minimalziel einer Regierungsbeteiligung erreicht und auf dem Bund-Länder-Rat im Berliner Westhafen herrschte reichlich Stolz, Jubel und Aufbruchstimmung. Einzig die Kränkung von Anton Hofreiter, der zugunsten von Cem Özdemir überraschend keinen Ministerposten bekam, trübte damals die Stimmung. Ansonsten: eitel Sonnenblumenschein.

Das alles ist weit weg, wenn an diesem Donnerstag mehr als 800 Delegierte zum viertägigen Bundesparteitag in Karlsruhe anreisen, der in der Partei traditionell Bundesdelegiertenkonferenz heißt. Was die Grünen seit Regierungsantritt alles an Kompromissen, Niederlagen und eigenen Fehlern zu bewältigen hatten, ist nicht wenig. Eine unvollständige Liste:

  • der peinliche Abgang von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel
  • die Positionierung als lautstärkster Fürsprecher von Waffenlieferungen an die Ukraine innerhalb der Ampel und die Unterstützung einer robusten Ertüchtigung der Bundeswehr, einschließlich der Anschaffung von Kampfdrohnen
  • die Verlängerung der Atomkraft und die Reaktivierung von Kohlekraftwerken
  • der Bau von Flüssiggasimporthäfen in umweltsensiblen Lagen
  • der Streit um den Kohlebergbau und das Dorf Lützerath
  • Auseinandersetzungen mit Grünen-nahen Waldbesetzern im Hambacher Forst und Dannenröder Forst
  • Niederlagen bei den Landtagswahlen in Saarland, Bayern, Bremen und Hessen
  • die (Selbst-)Demontage von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Streit um das Heizungsgesetz
  • eine von Außenministerin Annalena Baerbock mitgetragene Verschärfung der EU-Asylpolitik
  • heftiger Gegenwind gegen Lisa Paus' Kindergrundsicherung

Kurzfristige Programmänderung

Und nun droht auch noch zahlreichen, mühsam erarbeiteten Klima-Projekten das Aus, weil der Dreierkoalition nach dem Schuldenbremsen-Urteil das Geld ausgeht. Selbst ein Ende der Regierung steht im Raum. Wie sehr die Haushaltskrise die Partei umtreibt, zeigt auch eine kurzfristige Änderung des Parteitagsprogramms: Die Debatte über die aktuelle Lage wird wenige Stunden vor Beginn des Treffens von der Nacht auf den frühen Donnerstagabend vorgezogen. Unter anderem wird Habeck reden und den Delegierten versichern, dass der Wegfall von 60 Milliarden Euro im Klima- und Transformationsfonds mitnichten das Ende der Klimaziele der Bundesregierung bedeutet.

Eine zweite, potenziell noch wildere Debatte ist im Zuge der Umstrukturierung vom späten Donnerstag auf den späten Samstag verschoben worden: die Debatte um den Asylkurs der Bundesregierung in Deutschland und Europa. Zum Thema konnte schon beim kleinen Parteitag im Juni nur mit Mühe und Not ein Kompromiss herbeigeführt werden. Nun will die Grüne Jugend per Antrag erreichen, dass sich ihre Partei jedweder Asylrechtsverschärfung verwehren wird. Zudem kursiert ein Brandbrief, der den Ministern im Bund abspricht, überhaupt noch grüne Politik zu machen. Etwas mehr als Tausend Unterschriften unter dem Pamphlet sind nicht wenig, allerdings ins Verhältnis zu setzen zur Mitgliederzahl von mehr als 125.000.

Spagat zwischen Karlsruhe und Berlin

Und ganz nebenher will sich die Parteiführung um eine zweite Amtszeit bewerben, soll das Europawahlprogramm festgezurrt und die Liste der Europawahlkandidaten gewählt werden. Die Bundesdelegiertenkonferenz ist ein doppelter Parteitag. Bundesgeschäftsführerin Emily Büning hat dem viertägigen Mammutprogramm den Vorzug gegeben über ein zweites Datum für einen gesonderten Europaparteitag. Das spart Geld, kostet alle Beteiligten aber auch viel Kraft und Disziplin, nicht zuletzt die Bundesminister, die derzeit in Berlin - insbesondere Habeck - und der Welt gefragt sind, wo Baerbock einen Nahosttermin nach dem anderen zu bewältigen hat.

Doch längere Abwesenheit in Karlsruhe, wo die Grünen vor 43 Jahren ihren Gründungsparteitag in der Stadthalle abhielten, können sich die Bundesminister nicht erlauben. Baerbock und Habeck, die einstigen Stars der Partei, sind auch intern längst nicht mehr unangefochten. Sie müssen präsent sein, hinter den Kulissen daran mitwirken, dass die Fliehkräfte nicht stärker werden.

Die Bundesvorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang senkten im Vorfeld sicherheitshalber schon einmal die Erwartungen an ihr eigenes Wahlergebnis. Wenn sie sich am Freitag für eine zweite Amtszeit bewerben, wird von ihnen inhaltlich nichts Neues zu erwarten sein. Unbeirrt will die Parteiführung die Grünen als politische Kraft der Mitte positionieren, während sie seit Monaten keine schlüssige Antwort darauf vorliegen kann, wie die Grünen das Image einer elitären Verbotspartei abschütteln könnten.

Fakt ist: Die Partei polarisiert in der öffentlichen Meinung mehr denn je. Die Zahl der Menschen, die sich ein Kreuz bei den Grünen vorstellen können, ist derzeit so gering, dass sich die Partei die schwierige Entscheidung, ob sie 2025 Habeck oder Baerbock ins Kanzlerrennen schickt, auch gleich sparen könnte.

Baerbock und Habeck verlassen Parteirat

Apropos sparen: Beide Minister verzichten ebenso wie die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Hasselmann darauf, sich erneut in den Parteirat wählen zu lassen, einer Art erweitertem Vorstand. Damit hätte keiner der öffentlich maßgeblichen Grünen-Bundespolitiker mehr eine Parteifunktion inne. Das passt zwar zur von vielen Grünen geliebten Trennung von Amt und Mandat, ist in dem Ausmaß aber außergewöhnlich. Die Parteizentrale will mit diesem Schritt das 16-köpfige Gremium für mehr Leute aus den unterschiedlichen Ebenen öffnen.

Wie diese faktische Entwertung in der Partei aufgenommen wird, dürfte sich in Karlsruhe zeigen. Die Grünen-Führung trifft damit auch offiziell alle wichtigen Entscheidungen in einer informellen Sechser-Runde aus Baerbock und Habeck, Lang und Nouripour sowie Dröge und Hasselmann. Hinzukommt unregelmäßig der einzige grüne Ministerpräsident, Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg. Praktischerweise entgehen so die beiden wichtigsten Grünen-Politiker auch einer Bewertung ihrer Arbeit durch die Basis. Die Wiederwahl von Büning, Lang und Nouripour ist damit das einzige Frustventil der Basis bei einer Personenwahl.

Kretschmann, dem Urgestein und Gastgeber in Karlsruhe, fällt die Rolle des Schlussredners am Sonntag zu. Er wird dann entweder den hochgekochten Frust als Ausweis einer lebendigen Debattenkultur schönreden oder die einmal mehr gebildete Trutzburg beschwören. Letzteres ist angesichts der zahlreichen Angriffe von außen auf die Partei deutlich wahrscheinlicher. Schließlich wissen auch Fürsprecher einer konsequenteren Klimaschutzpolitik sowie eines liberaleren Einwanderungskurses: Für ihre Anliegen gibt es in Deutschland keine andere Vertretung von politischer Relevanz als die eigene Partei - erst recht nicht, wenn die einst so bejubelte Ampel-Koalition nach nur zwei wilden Jahren zerbrechen sollte.

Quelle: ntv.de

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