Kriege mit Tausenden Toten Die offene Wunde Gaza
15.08.2015, 15:23 Uhr
Der am 15. August 2005 eingeleitete Abzug gilt bei vielen Israelis als Misserfolg.
(Foto: dpa)
Ariel Scharon wollte vor zehn Jahren eine "Abtrennung" Israels vom Gazastreifen erreichen - ohne politische Konzessionen an die Palästinenser. Seitdem tobten dort drei Kriege mit Tausenden Toten und militante Palästinenser feuerten 16.500 Raketen auf Israel.
Ganze zehn Jahre hat es nach dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen gedauert, bis Rachel Saperstein und ihr Mann ihre dauerhafte Bleibe beziehen konnten. "Ich bin immer noch traumatisiert", sagt die 74-Jährige, während sie sich an die Zwangsräumung von 21 jüdischen Siedlungen durch die israelische Armee erinnert. "Ich hatte ein wunderschönes Haus in Gusch Katif und würde immer noch lieber dort sein als hier."
In den Jahren nach dem Abzug im August 2005 lebte das Ehepaar zunächst in einem Mobilheim rund 20 Kilometer nördlich des Gazastreifens. Rund 9000 Menschen - etwa 1900 Familien - waren vor einem Jahrzehnt auf Anweisung des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon gezwungen, die Siedlungen in der schmalen Küstenenklave zu verlassen. Israel hatte sie nach der Eroberung des Gazastreifens im Sechs-Tage-Krieg 1967 mitten in dem Palästinensergebiet gebaut.
Für die meisten Palästinenser waren die israelischen Siedler verhasste Fremdkörper. Immer wieder gab es Raketenangriffe und Anschläge auf die Menschen, die als Speerspitze der israelischen Besatzungsmacht galten. Ihre mit Stacheldraht umzäunten und streng bewachten Siedlungen erinnerten mehr an Militärposten als an zivile Wohnorte.
Blutbad im Gazastreifen
Angesichts der schlechten Sicherheitslage entschied sich Scharon während seiner Amtszeit für einen einseitigen Abzug aus dem feindlichen Gebiet - ohne politische Vereinbarung mit den Palästinensern. Israel und Ägypten kontrollierten weiter die Grenzen zu dem schmalen Palästinensergebiet.
Die Menschen in Gaza feierten die "Vertreibung" der Siedler zwar als Erfolg. Seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Jahre 2007 haben sie jedoch unter einer verschärften Blockade zu leiden. Drei größere Kriege tobten seitdem in dem dicht besiedelten Küstenstreifen, Tausende von Menschen wurden getötet. Unter den Palästinensern brach ein blutiger Bruderkrieg aus. Trotz einer offiziellen Versöhnung dauert die latente Rivalität zwischen der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen und der gemäßigteren Fatah im Westjordanland an.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sagte unmittelbar nach dem Abrücken des letzten israelischen Soldaten aus dem Gazastreifen, ein Teil Palästinas sei jetzt befreit. Nun hoffe er, dass dasselbe mit dem Westjordanland und Jerusalem geschehen werde. Doch davon kann bis heute keine Rede sein.
Eine "Vertreibung aus dem Paradies"
Vielen Israelis gilt der am 15. August 2005 eingeleitete Abzug nach wie vor als "offene Wunde" und letztlich als Misserfolg. Rund 16.500 Raketen und Mörsergranaten haben militante Palästinenser seit dem Rückzug, der eigentlich mehr Ruhe in die Region bringen sollte, auf Israel abgefeuert. Dies spielt rechtsorientierten Israelis in die Hände, die die Raketenangriffe als Argument gegen weitere Gebietskonzessionen gegenüber den Palästinensern im Westjordanland benutzen.
Die Siedler erhielten nach der Räumung eine finanzielle Entschädigung, teilweise in Millionenhöhe. Die Sapersteins empfanden die Zwangsräumung trotz der feindseligen Umgebung als "Vertreibung aus dem Paradies". Das vor einem halben Jahrhundert aus New York eingewanderte Paar hat drei Kinder, zwölf Enkelkinder und einen Urenkel.
In ihrer früheren Siedlung Neve Dekalim, der größten der 21 Siedlungen im Gazastreifen, haben die Palästinenser inzwischen die Al-Kuds-Universität eingerichtet. Die im Gazastreifen herrschende Hamas nennt die geräumten Regionen heute die "befreiten Gebiete". Nach der Räumung kam es zu Massenplünderungen durch die palästinensische Bevölkerung, wie der für die Ex-Siedlungen zuständige Mohammed al-Schaer erklärt. "Millionen Dollar sind verloren gegangen", sagt er. Erst nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 und der Bildung einer Einheitsregierung mit der Fatah sei eine für die "befreiten Gebiete" zuständige Behörde eingerichtet worden.
Israel bereut Rückzug vor zehn Jahren
Die israelischen Siedler hatten viel landwirtschaftliche Ausrüstung, Treibhäuser und andere wertvolle Infrastruktur hinterlassen. Einige der früheren Siedlungen dienen jetzt als Farmen, andere als Freizeitparks, Krankenhäuser und Sporteinrichtungen. Die hebräischen Namen der Siedlungen wurden in arabische umgewandelt. Die Namen stammen entweder aus dem Koran oder beschreiben historische Schlachten muslimischer Kämpfer gegen Ungläubige, Kreuzritter oder Juden.
In den früheren Siedlungen Azmona und Bdolach im Süden des Gazastreifens werden jetzt Melonen, Gurken und Mangos angebaut. Sie wurden zusammengelegt und in Ein Dschalut umtauft - der arabische Name eines Kampfes im Jahre 1260 zwischen Muslimen und Mongolen in der Nähe von Beit Schean im heutigen Israel. Andere Ex-Siedlungen wie Katif in der Nähe des Flüchtlingslagers Dir el-Balach wurden - sehr zu Israels Erbitterung - in Traininglager militanter Palästinenser umgewandelt.
Itamar Yazdi, Wachmann in Bnei Dekalim, gehört auch zu den Siedlern, die den Gazastreifen vor zehn Jahren verlassen mussten. Die drei Kriege seit dem Rückzug und die ständigen Raketenangriffe beweisen seiner Ansicht nach "ohne jeden Zweifel, dass die Räumung ein Fehler war". Auch viele frühere Unterstützer des Schritts seien heute ernüchtert. "Es hilft mir nichts mehr, aber vielleicht wird es in Zukunft ähnliche Vorhaben verhindern", sagt er.
Quelle: ntv.de, Ofira Koopmans und Saud Abu Ramadan, dpa