Politik

Sarajevo, 28. Juni Ein Attentat der Zufälle

Das letzte bekannte Foto von Franz Ferdinand: Er verlässt mit seiner Frau Sophie das Rathaus von Sarajevo.

Das letzte bekannte Foto von Franz Ferdinand: Er verlässt mit seiner Frau Sophie das Rathaus von Sarajevo.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Im Anschlag von Sarajevo kumulieren die Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg. Das Versagen der Sicherheitskräfte begünstigt das Attentat auf Österreichs Thronfolger. Doch eine Rekonstruktion zeigt, wie zufällig die Schüsse letztlich fielen.

Gavrilo Princip wurde 1894 in Bosnien geboren. Er stirbt 1918 in Haft an Knochentuberkulose.

Gavrilo Princip wurde 1894 in Bosnien geboren. Er stirbt 1918 in Haft an Knochentuberkulose.

(Foto: AP)

Der 28. Juni 1914 ist ein sonniger Tag - Kaiserwetter. Der Thronfolger von Österreich-Ungarn, Erzherzog Franz Ferdinand, besucht zusammen mit seiner Frau Sophie Sarajevo. In seiner Funktion als sogenannter Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht wohnt er dem Abschluss eines Manövers zweier österreichischer Korps in Bosnien bei.

Es ist ein politisch brisanter Besuch in der größten Stadt von Bosnien und Herzegowina. Die ehemals osmanischen Provinzen waren 1908 von der Donaumonarchie annektiert worden, sehr zum Verdruss des angrenzenden serbischen Königreiches, dem die Erweiterung des Wiener Einflussbereiches auf dem Balkan ein Dorn im Auge ist.

Am Grab schwört Princip Rache

Seitdem hatten sich die Spannungen zwischen beiden Staaten hochgeschaukelt, nicht zuletzt weil die serbische und andere Minderheiten in den beiden Provinzen von Wien unterdrückt werden. 1910 hatte es deshalb in Sarajevo bereits ein Attentat auf den bosnischen Gouverneur gegeben. Nachdem es gescheitert war, erschoss sich der Attentäter. An seinem Grab schwor der serbische Nationalist Gavrilo Princip Rache.

Dass der Thronfolger nun ausgerechnet am 28. Juni Bosnien besucht, ist eine weitere Demütigung. Denn es ist der Vidovdan, der Sankt-Veits-Tag, für Serben ein heiliges Datum: Es ist der Jahrestag der Schlacht vom Amselfeld, bei der 1389 serbische Truppen einem osmanischen Heer unterlagen. Das Datum steht symbolisch für den Kampf gegen Fremdherrschaft. Ob der österreichische Thronfolger den Tag bewusst für seinen Besuch wählt, ist unter Historikern aber bis heute umstritten.

Wie dem auch sei: Der anstehende Besuch aus Österreich scheint Princip eine gute Gelegenheit zu sein, etwas Besonderes für sein Volk zu tun. Ihm kommt entgegen, dass die serbisch-nationalistische Geheimorganisation "Schwarze Hand", die Verbindungen zum serbischen Geheimdienst hat, ebenfalls ein Attentat plant. Einst wollten sie Princip nicht aufnehmen, da er ihnen zu schwächlich war. Diesmal jedoch haben sie ihn und andere Mitglieder der nationalistischen Vereinigung Junges Bosnien rekrutiert.

Ein erstes Bombenattentat scheitert

Schon im Frühjahr 1914 hatten die Planungen des Anschlags begonnen. Auch die serbische Regierung erfährt davon. Gegenüber Wien äußert sie jedoch nur allgemeine, vage Warnungen, die dort nicht ernst genommen werden. So reist der Thronfolger mit geringen Sicherheitsvorkehrungen auf den Balkan. Sein Schicksal ist deshalb aber noch lange nicht besiegelt. Das zeigt die Rekonstruktion des Tages durch den Historiker Bernd Sösemann, erschienen in dem Sammelband "Das Attentat in der Geschichte".

Zeitgenössische Darstellung des Attentats. Viele Künstler versuchten, die Ereignisse darzustellen, viele Details wurden dabei aber verfälscht.

Zeitgenössische Darstellung des Attentats. Viele Künstler versuchten, die Ereignisse darzustellen, viele Details wurden dabei aber verfälscht.

(Foto: AP)

Am Morgen des 28. Juni fahren Franz Ferdinand und Sophie mit dem Zug von Ilidža, einem Badeort, in dem sie residieren, nach Sarajevo. Am Stadtrand steigen sie in ein Auto - ihr von Leopold Lojka gefahrener Wagen ist Teil einer Kolonne, in der Militärs und Würdenträger sitzen. Geheim ist die Fahrt keinesfalls. Schon seit Wochen berichten Zeitungen ausführlich über Zeitplan und Route des Besuchs, man hofft auf zahlreiche jubelnde Menschen. Gering ist dagegen die Präsenz von Polizei und Armee. Letztere befindet sich zum Manöver außerhalb der Stadt, zum Schutz des Besuchers stehen nur wenige Polizisten und Sicherheitskräfte zur Verfügung.

Kurz nach 10 Uhr macht sich die Wagenkolonne auf den Weg zum Rathaus der Stadt. Langsam bewegen sich die Autos auf dem Appel-Kai am Fluss Miljacka, am Straßenrand stehen etliche Schaulustige. Darunter sind auch zwei Verschwörer, die ihre vorbereiteten Bomben jedoch nicht zünden. Erst der dritte Attentäter, Nedeljko Čabrinović, wirft seinen Sprengsatz in Richtung des Autos des Erzherzogs. Dessen Fahrer sieht das Objekt und gibt Gas - so prallt die Bombe am Heck des Wagens ab und explodiert erst vor dem folgenden Auto. Zwei darin sitzende Offiziere und etwa 20 Zuschauer werden verletzt. Čabrinović nimmt die Zyankalikapsel, über die alle Verschwörer verfügen. Er erbricht sie jedoch wieder und wird verhaftet.

Ein letztes Foto des Thronfolgers

Das Foto soll die Festnahme von Princip (2.v.r.) kurz nach dem Attentat zeigen.

Das Foto soll die Festnahme von Princip (2.v.r.) kurz nach dem Attentat zeigen.

(Foto: AP)

Die Kolonne setzt ihre Fahrt fort. Zur erhöhten Sicherheit fährt nun ein Leibjäger des Erzherzogs auf dem Trittbrett mit. So werden drei weitere Attentäter passiert, die aber nicht eingreifen. Einer von ihnen, Princip, taucht vorerst in der Menge unter. Im Rathaus angekommen beschwert sich Franz Ferdinand beim Bürgermeister: "Da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen. Das ist empörend." Für die Rückfahrt ändert man jedoch lediglich die Route. Der kaiserliche Statthalter von Bosnien, Oskar Potiorek, garantiert persönlich für die Sicherheit Franz Ferdinands.

Etwa eine Viertelstunde später verlassen der Erzherzog und sein Gefolge das Rathaus - ein Foto zeigt den Thronfolger vor dem Gebäude. Die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung. Auf Höhe der Lateiner-Brücke fahren die Autos jedoch nicht geradeaus auf dem Kai weiter, wie verabredet, sondern biegen nach rechts ab - es ist die ursprüngliche Route, die auch von den Zeitungen angekündigt worden war. Warum dies geschieht, ist unklar. Vielleicht wurden die Fahrer unzureichend eingewiesen.

Bericht der Londoner "Times" einen Tag nach dem Attentat.

Bericht der Londoner "Times" einen Tag nach dem Attentat.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Zu spät bemerken die Insassen der Kolonne den Fehler. Lojka, der Chauffeur des Erzherzogs, bringt den Wagen zum Stehen, um den Rückwärtsgang einzulegen und zum Kai zurückzukehren. Doch die Fahrer haben nicht nur die falsche Route gewählt, sie schneiden auch noch - im damals herrschenden Linksverkehr - die Kurve. So kommen die Wagen nicht auf der (richtigen) linken Seite der Fahrbahn zum Stehen, sondern am rechten Straßenrand, genau vor dem "Schiller-Eck", einem Delikatessengeschäft - wo Gavrilo Princip in der Menge steht.

Zyankalikapsel wirkt nicht

Er sieht die haltenden Wagen, den Erzherzog, zieht seine Pistole und feuert zweimal, aus etwa zwei Metern Entfernung (wäre die Kurve korrekt ausgefahren worden, wären es ein paar Meter mehr gewesen). Der erste Schuss durchschlägt die Wagentür und trifft Sophie, die noch vor Ort an den inneren Blutungen stirbt. Der zweite Schuss trifft den Thronfolger in den Hals, Halsvene und Atemröhre werden zerfetzt, er verliert sein Bewusstsein.

Die blutverschmierte Uniform von Franz Ferdinand befindet sich heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Dort steht auch das Auto, in dem beide saßen und das Sofa, auf dem der Thronfolger starb.

Die blutverschmierte Uniform von Franz Ferdinand befindet sich heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Dort steht auch das Auto, in dem beide saßen und das Sofa, auf dem der Thronfolger starb.

(Foto: picture alliance / dpa)

Princip schluckt seine Zyankalikapsel, doch auch er erbricht sie wieder. Bevor er sich mit seiner Pistole erschießen kann, wird ihm die Waffe aus der Hand gerissen. Anwesende Bürger halten ihn fest, dann wird er von der Polizei verhaftet, die ihn mit Säbelknäufen zusammenschlägt und abführt. Der Wagen des Erzherzogs fährt derweil - im Rückwärtsgang - über Appel-Kai und Lateiner-Brücke zum Konak, der Residenz von Statthalter Potiorek. Dort versuchen Ersthelfer, die Blutungen des Erzherzogs zu stoppen. Doch vergeblich - Franz Ferdinand stirbt an seinen Verletzungen. In Sarajevo und anderen Städten Bosniens brechen daraufhin Unruhen aus, die sich vor allem gegen die serbische Bevölkerung richten, Dutzende Serben werden verhaftet.

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs, im Oktober 1914, werden insgesamt 25 Mitverschwörer verurteilt. Der Attentäter, der die Bombe geworfen hatte, bekommt als Minderjähriger 20 Jahre Kerkerhaft, er stirbt Anfang 1916 an Tuberkulose im Gefängnis. Drei Verschwörer werden hingerichtet. Andere kommen nach Ende des Weltkriegs im neu gegründeten Königreich Jugoslawien frei. Darunter ist auch Vaso Čubrilović, der später Geschichtsprofessor und Minister unter Diktator Tito wird.

Princip stirbt noch vor Kriegsende

Princip wird zu 20 Jahren Kerkerhaft in der Kleinen Festung Theresienstadt verurteilt - auch er entgeht der Todesstrafe, da er zum Tatzeitpunkt noch nicht 20 Jahre alt ist. Doch er ist schon länger an Tuberkulose erkrankt, die harten Haftbedingungen setzen ihm zusätzlich zu. Er stirbt am 28. April 1918, noch vor Kriegsende. Nach seinem Tod wird er - wie die anderen Verschwörer - in Serbien und Jugoslawien zum Volkshelden. Die Verehrung hält bis heute an und sorgt selbst zum 100. Jahrestag des Anschlags für Kontroversen.

Die einen verehren ihn, die anderen geben ihm die Schuld an der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts". Doch auch wenn er den Thronfolger ermordete - Princips Tat war nicht der eigentliche Auslöser des Krieges. Der Tod des unbeliebten österreich-ungarischen Thronfolgers wurde selbst in Wien nicht mit allzu großem Bedauern aufgenommen. Das Attentat bot der Donaumonarchie jedoch die Möglichkeit, gegen Serbien vorzugehen, dem man vorwarf, hinter der Tat zu stehen.

Mit dem Attentat begann die Julikrise, die am 28. Juli in der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien mündete, dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Dieser eine Monat hätte die Möglichkeit geboten, die Krise friedlich zu lösen, wie man es schon zuvor mehrmals geschafft hatte. Nur fehlte auf allen Seiten der Wille dazu. Gavrilo Princip hat den Ersten Weltkrieg nicht verursacht. Aber er entzündete die Lunte, die das europäische Pulverfass schließlich explodieren ließ.

Quelle: ntv.de

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