Die Selbstbezogenheit des Westens Es lebe der #Hashtag!
15.05.2014, 16:31 Uhr
Auch Michelle Obama fordert: #BringBackOurGirls.
Was bringt eine Twitter-Kampagne wie #BringBackOurGirls-Aktion, mit der die von Terroristen entführten nigerianischen Mädchen befreit werden sollen? Aufmerksamkeit, gewiss, auch das Gefühl, sich für eine gute Sache engagiert zu haben. Aber es steckt noch mehr dahinter.
Die Welt verändern mit einer Nachricht von maximal 140 Zeichen? Mit dem Hashtag #BringBackOurGirls machen Hunderttausende derzeit ihrer Empörung über die Entführung von mehr als 200 Schulmädchen in Nigeria Luft. Die Mehrheit der Tweets füllt noch nicht einmal die verfügbaren 140 Zeichen und stellt dennoch den Anspruch, Boko Haram, eine der gewalttätigsten islamistischen Terrorgruppen, in die Knie zwingen zu wollen. Gutes tun per Twitter-Tastendruck.
Der Anspruch scheint absurd, gar arrogant und vor allem ignorant. Und trotzdem: Im Fall der in Nigeria entführten Mädchen hat die Social-Media-Gemeinde wieder einmal bewiesen, "Hashtag-Aktivismus" kann etwas bewegen. Im jenem fernen westafrikanischen Land Nigeria jedenfalls hat eine bisher trotzige Regierung nun die Entsendung von US- und britischen Truppen in ihr Land genehmigt. Nur - ob das gut ist?
Aus Nigeria gibt es heute zwei schlechte Nachrichten: Die in Chibok entführten Mädchen sind immer noch in der Gewalt von Boko Haram. Zweitens: Im Nordosten haben Soldaten auf ihren eigenen Kommandanten geschossen. Das wird im Westen kaum Schlagzeilen machen, ist aber typisch für die eigentliche Herausforderung in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Die Soldaten machen ihren Befehlshabenden für den Tod von Kameraden verantwortlich, die bei einem Überfall von Boko-Haram-Kämpfern erschossen wurden. Das klingt nach einem internen Streit, ist aber ein Zeichen für die chronisch schlechte Ausrüstung und Moral der nigerianischen Streitkräfte. Und das ist ein Punkt, den niemand, der sich für die Freilassung der am 14. April entführten Mädchen einsetzt, außer Acht lassen kann.
"Gegen Boko Haram zu protestieren, ist so, als wolle man Krebs mit Kerzen heilen", schreibt der brillante nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole in einem Tweet. "Terrorismus ist keine Naturkatastrophe. Kriminelle Fahrlässigkeit sukzessiver nigerianischer Regierungen hat ideale Bedingungen für Boko Haram geschaffen", so Cole. Die rasante Verbreitung der #BringBackOurGirls-Kampagne verfolgen afrikanische Intellektuelle kritisch. Cole, der für sein Buch "Open City" in Berlin den Internationalen Literaturpreis verliehen bekam, ruft zur Differenzierung auf. "Denkt daran: #BringBackOurGirls, ein Meilenstein für die nigerianische Demokratie, ist nicht das Selbe wie #BringBackOurGirls, eine Welle globaler Sentimentalität."
Die fünf Phasen westlicher Reaktionen
In der größten und stolzen Wirtschaftsnation Afrikas ist die Sympathie- und Empörungswelle aus dem Westen nicht durchgängig willkommen. Vor allem die der USA nicht. Als China diese Woche erstmals Hilfe im Kampf gegen den Terrorismus in Afrika anbot, horchten viele Intellektuelle auf. Potentiell gut, so das allgemeine Urteil. Gutes Gegengewicht zum bedenklichen Krieg gegen den Terror der Amerikaner. Nigerias Opposition ist sich durchaus der Bedeutung des Drucks bewusst, den Washington oder europäische Nationen auf Abuja ausüben können. Aber den Kampf gegen Boko Haram möchte man selber gewinnen und zwar am besten mit einer eigenen kompetenten Regierung. Die sudanesische Journalistin Nesrine Malik hat in der ihre eignen satirischen Art fünf Phasen der westlichen Reaktion auf Ereignisse in "fernen Ländern" in einem Tweet beschrieben:
1. Ignoranz
2. Wikipedia-Wissen
3. Empörung
4. #SolidaritätsHashtag
5. Ermüdende Selbstbezogenheit
Phase eins und zwei sind bewältigt. Die Meisten dürften inzwischen wissen, Nigeria ist in Westafrika und Boko Haram sind die Bösen in diesem Konflikt. Böse und "natürlich" Islamisten. Auch deshalb passt ja die untröstlich betroffene US First Lady Michelle Obama zu dieser Kampagne, die am 7. Mai mit ihrem Foto-Tweet Phase 4 in großem Stil einleitete. Und der Anfang von Phase 5 gemäß Nesrine Malik kann sich sicherlich der britische Premierminister David Cameron auf die Fahne schreiben. Er twittert nicht nur, er bietet militärische Unterstützung gegen Boko Haram an. Und der nun von der öffentlichen Empörung in die Enge getriebene nigerianische Präsident Goodluck Jonathan nimmt an. Endlich! Nachdem seine Ehefrau noch vor wenigen Tagen Angehörige der verschleppten Kinder hat verhaften lassen, weil sie der Meinung war, das ganze Gerede über die Entführungen sei frei erfunden. Ja, #BringBackOurGirls hat Aufmerksamkeit erregt. Das ist eine Errungenschaft!
Es ist aber auch im Zusammenhang anderer ähnlicher Social-Media-Kampagnen zu sehen. Der Kony-Offensive zum Beispiel, die 2012 die Online-Gemeinde durch alle fünf Phasen jagte. Man erinnere sich: US-Spezialeinheiten wurden nach Uganda geschickt, um dem Graus endlich ein Ende zu bereiten und Kony festzunehmen. Bis heute ohne Erfolg. Es ist eben doch komplizierter, als 140 Zeichen einen denken lassen.
Auch am Kampf gegen Boko Haram wird sich die online "Konfliktlösungs-Industrie" die Zähne ausbeißen. Es reicht nicht zu twittern, auch nicht Spezialeinheiten einzufliegen. Nigerias Probleme sind systembedingt und Weltpolizisten sollten vorsichtig sein, nicht genau die Kräfte der nigerianischen Politik zu stärken, die dieses Chaos kreiert haben. Nigeria ist reich und hat Öl - viel Öl. Aber die Bevölkerung hat davon bis heute nicht profitiert. Das Militär ist notorisch unterbezahlt, schlecht ausgebildet und steht einem hoch motivierten und gut ausgerüsteten Feind gegenüber. Kein Wunder, dass Soldaten die Entführer der Mädchen von Chiboc nicht verfolgt haben. Sie hatten keine Chance, gegen sie zu gewinnen. Und kein Wunder, dass einige Soldaten auf ihren Kommandeur schossen, weil er sie, wahrscheinlich auf Druck aus Abuja, in den sicheren Tod schicken wollte. Auch Soldaten haben Familien, auch sie haben Töchter!
Die Weltbank beziffert die Summe der seit der Unabhängigkeit Nigerias im Jahr 1960 "verloren gegangenen" Staatsgelder auf satte 30 Milliarden Euro. Jeder der einmal in Abuja, Lagos oder auch Maiduguri (unweit von Chibok) war, schüttelt bei derartigen Zahlen nur den Kopf. Nigerias Bevölkerung ist arm, teilweise wirklich bettelarm. Ein Großteil des veruntreuten Geldes wurde ins Ausland geschafft. Nur ein Beispiel: Als vor zwei Jahren der ehemalige nigerianische Gouverneur James Ibori wegen Geldwäsche auf der Flucht in Dubai festgenommen wurde, besaß er sieben Häuser in Großbritannien. Der frühere nigerianische Militärdiktator, Sani Abacha (er verstarb 1998), soll über 3 Milliarden Euro an die Seite geschafft haben. 245 Millionen davon wurden unlängst auf einem Konto in Jersey gefunden. Der Rest wird weiterhin in England vermutet.
Das sind bessere Ansätze für eine Kampagne für eine sicherere nigerianische Zivilgesellschaft als Hashtag-Messages und darin verschickte Fotos von Schildträgern, mögen sie auch noch so berühmt sein. Den Rest müssen die Nigerianer selbst erkämpfen - und das können sie auch. Die wirklich wichtigen Aktivisten im Kampf für die Befreiung der Mädchen von Chibok sind die Demonstranten in Abuja, die weiterhin jeden Tag trotz heftigen Regens und großem Polizeiaufgebot rund um den Unity Fountain in Abuja demonstrieren. Einer von ihnen ist der Rechtsanwalt Ibrahim M. Abdullahi. Er hatte, nach einem Fernsehinterview mit der ehemaligen nigerianischen Erziehungsministerin Obiageli Ezekwesili, am 23.April getwittert: "Ja! #BringBackOurGirls." Und Ezekewsili rief direkt danach auf: "Nutzt den Hashtag #BringBackOurGirls bis sie gerettet sind."
Seitdem demonstrieren beide, Anwalt und ehemalige Ministerin und viele andere, jeden Tag am Union Fountain in Abuja.
"Vielleicht ist es die Rolle der internationalen Gemeinschaft", so Schriftsteller Teju Cole, "als Zeuge dessen zu fungieren, was wir Nigerianer selbst tun müssen und diese Arbeit zu vervielfältigen."
Sprich: Es lebe der Hashtag. Aber die Mädchen von Chibok retten kann er nicht.
Quelle: ntv.de