Partisanen oder Raketen? Experte: "Die russische Propaganda muss beides leugnen"
12.08.2022, 10:12 Uhr
Die Folgen der Explosionen waren weit über die Militärbasis hinaus zu sehen.
(Foto: picture alliance/dpa/Anonymous/AP)
Am Dienstag erschüttern mehrere heftige Explosionen eine russische Militärbasis auf der Krim. Dabei wird zahlreiches Kriegsgerät zerstört. Offiziell bekennt sich die Ukraine zu einem Angriff. Warum Moskau Kiew nicht beschuldigen kann, erklärt Gerhard Mangott, Russland-Experte und Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Herr Mangott, Partisanen, ein Unfall oder doch die Ukraine: Welche Erklärung für die Explosionen auf der Krim-Militärbasis Saki halten Sie für am plausibelsten?
Gerhard Mangott: Ich halte die russische Version, dass es sich bei den Explosionen um einen Unfall gehandelt haben soll, für völlig unglaubwürdig. Denn wäre es ein Unfall gewesen, erklärt das nicht, weshalb die Regionalverwaltung der Krim danach die Terrorwarnstufe erhöht hat. Deshalb diskutieren Militärexperten zwei andere Möglichkeiten. Eine davon ist ein Angriff mit ukrainischen Raketen. Die Videoaufnahmen und Satellitenbilder der Militärbasis zeigen mindestens drei Explosionskrater, demnach müssten es drei verschiedene Einschläge gewesen sein. Es ist jedoch unklar, ob und welches ukrainische Waffensystem im Einsatz gewesen sein soll. Denn diese Luftwaffenbasis ist mehr als 300 Kilometer von der südlichsten Position der ukrainischen Streitkräfte entfernt. Für die meisten Systeme ist das zu weit.
Was ist dann die zweite Möglichkeit?
Die andere Interpretation ist, dass Partisanen auf der Krim mit den ukrainischen Streitkräften zusammengearbeitet haben könnten. In beiden Fällen gehen alle Militärexperten davon aus, dass die Ukraine die Explosionen auf der Krim verursacht hat. Dass das nicht verhindert werden konnte, ist ein großer Schaden für die Reputation Putins, der die Krim seit 2014 zu einer militärischen Festung ausgebaut hat. Es schadet auch dem Ansehen der Kommandeure auf der Krim.
Ähnlich überraschend sank vor einigen Monaten das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, die "Moskwa". Sind die beiden Vorfälle vergleichbar?
Was die Erklärung der russischen Regierung angeht, auf jeden Fall. Denn auch damals hat der Kreml davon gesprochen, die "Moskwa" sei erst durch die Detonation von Munition beschädigt worden und anschließend in einem Sturm gesunken. In beiden Fällen halte ich die Erklärung der explodierten Munition für nicht plausibel. Die russische Seite kann aber nicht einräumen, dass die Ukraine offenbar in der Lage ist, Ziele auf der Krim zu treffen und dass Russland es umgekehrt nicht geschafft hat, das zu verhindern.
Zudem kann der Kreml auch nicht zugeben, dass es auf der angeblich russischen Krim ukrainische Partisanen gibt. Damit steckt die russische Propaganda in einer Zwickmühle, oder?
Für die russische Regierungspropaganda bedeutet es, dass sie beides leugnen muss: einen Angriff durch die ukrainischen Streitkräfte und auch, dass Partisanen auf der Krim mitgewirkt oder alleine gehandelt hätten, die dort auch leben. Es bleibt also nur die keinesfalls überzeugende Ausrede der explodierten Munition, die im Ausland niemand glaubt, und in der eigenen Bevölkerung von der staatlichen Propaganda verbreitet wird. Sonst wäre die russische Seite auf gleich mehreren Fronten angreifbar.
Die Behauptung, bei den Explosionen sei nichts zerstört worden, entlarvten wenig später Satellitenbilder. Gegenüber dem Westen behauptete Russland immer wieder Dinge, die wenig später durch solche Aufnahmen entkräftet wurden. Warum macht der Kreml das?
Es geht darum, die Deutungshoheit zu behalten. Moskau deutet die Dinge so um, wie es gegenüber der eigenen Bevölkerung gebraucht wird. Wenn Videobeweise vorgebracht werden, wiegelt die russische Führung das als inszeniert oder als Desinformation der ukrainischen Seite ab. Ein Beispiel sind die Kriegsverbrechen in Butscha oder Irpin. Dort haben westliche Medien mithilfe von Videos, Bildern und Augenzeugenberichten Beweise geliefert, zur russischen Bevölkerung sickerten die kaum durch. Insofern kann es sich der Kreml gegenüber der eigenen Bevölkerung leisten, international innerhalb weniger Stunden entkräftet zu werden.
Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim betrachtet Russland die Halbinsel als sein eigenes Staatsgebiet. Erwarten Sie eine Vergeltungsmaßnahme?
Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew hatte vor einiger Zeit angekündigt, dass Russland jeden Angriff auf das eigene Territorium vergelten werde. Und aus russischer Sicht ist die Krim russisches Territorium. Eine Vergeltung für die Explosionen auf der Krim wird aber nicht als solche erkennbar sein. Allein die Andeutung wäre eine indirekte Anerkennung, dass die Ukraine hinter dem Angriff gestanden hat. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass Russland versuchen wird, durch einen heftigen Militärschlag die Verwundbarkeit der ukrainischen Seite zu demonstrieren.
Ähnlich wie bei der "Moskwa" hat sich Kiew bis jetzt auch nicht öffentlich zu dem Angriff bekannt. Warum nicht?
In den vergangenen sechs Monaten hat die Ukraine immer wieder Ziele im russischen Grenzgebiet angegriffen. In der Region Brjansk wurden etwa Militäreinrichtungen und Treibstoffdepots beschossen. Doch all das ist nicht mit dem massiven Angriff auf die Krim vergleichbar, die Moskau als russisches Territorium betrachtet und auf der ein militärisches Ziel nachhaltig beschädigt wurde. Die Ukraine ist damit zufrieden, zu einem solchen Angriff imstande zu sein, das öffentliche Bekenntnis braucht es nicht. Für die Moral der Bevölkerung und der Truppe ist die teilweise Zerstörung der russischen Luftwaffenbasis sehr wichtig. Im Westen ist ohnehin bekannt, dass die Ukrainer dahinterstecken. Kiew wiederum weiß, dass selbst die Russen davon ausgehen, dass es ein ukrainischer Angriff war.
Welche Bedeutung hatte die Zerstörung auf der Militärbasis strategisch?
Für die russischen Streitkräfte ist die Basis militärisch wichtig. Dort sind Kampfflugzeuge des Typs Suchoi Su-24 und Su-30 und Helikopter aufgestiegen, um im Süden der Ukraine im Einsatz zu sein. Das betrifft dann auch die Region Cherson, wo sich die Ukraine gerade auf eine Gegenoffensive vorbereitet. Für die russischen Streitkräfte ist also auch ein großer militärischer Schaden entstanden, was die militärische Manövrierfähigkeit in den kommenden Tagen und Wochen anbelangt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj hat nach den Explosionen davon gesprochen, dass der Krieg mit der Annexion der Krim begonnen habe und er mit der Rückkehr der Krim zur Ukraine beendet würde. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Ukraine tatsächlich die Krim zurückerobern kann?
Obwohl ich kein Militärexperte bin, halte ich die Rückeroberung der Krim durch die Ukraine für nahezu ausgeschlossen. Das wäre eine desaströse Niederlage für Russland und Putin selbst, vielleicht würde er dieses Szenario politisch gar nicht überleben. Deshalb wird er alles unternehmen, es zu verhindern.
Mit Gerhard Mangott sprach Sebastian Schneider
Quelle: ntv.de