Politik

Zuwanderungsdebatte wird Thema im Kabinett Gabriel beruhigt, Seehofer wütet

Rumänische Arbeiter reisen von Bukarest nach Deutschland und Belgien.

Rumänische Arbeiter reisen von Bukarest nach Deutschland und Belgien.

(Foto: dpa)

"Hysterie", "üble Demagogie" und "Heuchelei" sind Worte, die in der Debatte um die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien fallen. Doch mehrere Politiker wünschen sich Ruhe in der Debatte. Man solle das Problem nicht künstlich groß reden, sagt SPD-Chef Gabriel. CSU-Chef Seehofer empört sich derweil über das "Empörungsritual".

Sachlich und seriös wollen Politiker in Deutschland und Europa die Debatte um eine mögliche Armutszuwanderung führen. Der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel sagte der "Bild"-Zeitung: "Ich halte nichts davon, dieses Problem künstlich groß zu reden. Aber wir dürfen es auch nicht verniedlichen." EU-Sozialkommissar Laszlo Andor forderte mehr Gelassenheit, Unionsfraktionsvize Michael Kretschmer sprach sich für "mehr Ruhe und Seriosität" aus. CSU-Chef Seehofer erhob dagegen Vorwürfe gegen die SPD.

Andor sagte der "Welt": "Wir müssen unbedingt Grundrechte wie die Freizügigkeit verteidigen und dürfen auf Zuwanderung von Menschen nicht mit Hysterie reagieren." Das EU-Recht beinhalte bereits Schutzklauseln gegen Missbrauch - "wir wollen und wir brauchen darum keine neuen Gesetze, um die Freizügigkeit einzuschränken", fügte der ungarische Politiker hinzu.

Seit dieser Woche dürfen auch Bulgaren und Rumänen ohne Beschränkung in Deutschland Arbeit suchen. Die Wirtschaft begrüßt die Regelung, sie sucht nach gut ausgebildeten Fachkräften. Damit verbunden ist mancherorts jedoch auch die Sorge vor einer zusätzlichen Belastung der Sozialsysteme. Vor allem die CSU setzt sich für schärfere Gesetze ein. Der jüngste Vorschlag des CDU-Europapolitikers Elmar Brok, Fingerabdrücke von vermeintlichen Sozialbetrügern zu verlangen, brachte diesem den Vorwurf des Populismus ein. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament, Rebecca Harms, sprach in der "Neuen Presse" aus Hannover von "übler Demagogie".

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnte vor Schäden für die Wirtschaft. "Die Zuwanderung insgesamt darf nicht durch eine aufgeheizte politische Diskussion in ein schlechtes Licht gerückt werden", sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Deutschland brauche angesichts der demografischen Entwicklung in den kommenden Jahren bis zu 1,5 Millionen qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland, um "Wachstum zu sichern und die Sozialsysteme zu stabilisieren". "Wir müssen weiter an einer Willkommenskultur für Zuwanderer arbeiten, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagte Wansleben.

"Empörungsritual, für das ich kein Verständnis habe"

Die große Koalition will prüfen, ob die Regelungen gegen einen möglichen Missbrauch von Sozialleistungen verschärft werden sollen. Das neue Bundeskabinett werde dazu bei seiner ersten Sitzung im neuen Jahr am kommenden Mittwoch einen Staatssekretärsausschuss einsetzen, sagte Vizeregierungssprecher Georg Streiter am Freitag in Berlin. Der Ausschuss soll die Gesetzeslage durchforsten und schauen, wo Missbrauch möglich ist.

"Willkommen in Europa" hieß es 2006 auf diesem Poster in Rumänien, für das zwei Rumänen posieren.

"Willkommen in Europa" hieß es 2006 auf diesem Poster in Rumänien, für das zwei Rumänen posieren.

(Foto: dpa)

CSU-Chef Horst Seehofer warf der SPD derweil "Heuchelei" vor. "Ich finde es erschreckend, wie groß die Unkenntnis von SPD-Mitgliedern der Bundesregierung über die von ihnen gefassten Beschlüsse ist", sagte Bayerns Ministerpräsident dem "Münchner Merkur". "Ich empfehle allen die Lektüre des Koalitionsvertrags", fügte er hinzu. Die SPD veranstalte ein "Empörungsritual, für das ich kein Verständnis habe". Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD heißt es: "Wir wollen im nationalen Recht und im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben durch Änderungen erreichen, dass Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden."

Seehofer sagte weiter, selbst der SPD-Politiker Christian Ude habe im vergangenen Mai als Münchener Oberbürgermeister und Städtetagspräsident festgestellt, dass die soziale Lage in Rumänien und Bulgarien unterschätzt worden sei. Ude habe seinerzeit erklärt, die Armutszuwanderung stelle "viele Kommunen vor kaum lösbare Aufgaben" und gefährde "auf Dauer den sozialen Frieden".

Zugleich versicherte der CSU-Vorsitzende, das Papier der Landesgruppe habe nichts mit dem anstehenden Europawahlkampf zu tun. Er habe zwar erst aus der Presse von dem Dokument erfahren, sei aber "hundertprozentig damit einverstanden", sagte Seehofer.

Laschet wirbt für offene Grenzen

CDU-Politiker Kretschmer mahnte im Sender MDR Info: "So groß, wie die Schlagzeilen derzeit sind, ist das Phänomen bei weitem nicht." Es gehe nicht um die Einschränkung der Freizügigkeit, sondern um die Bekämpfung von Sozialmissbrauch. In der Bundesregierung soll nun eine Staatssekretärs-Arbeitsgruppe prüfen, ob und welche Maßnahmen gegen den möglichen Missbrauch von Sozialleistungen notwendig sind.

Die nordrhein-westfälische CDU will in der Union für die Vorteile einer toleranten Integrationspolitik werben. NRW habe mit seinen vielen Nachbarländern immer von offenen Grenzen profitiert. "Diese Erfahrung wollen wir auch in die bundesdeutsche CDU einbringen", sagte Landesparteichef Armin Laschet. Der Vizevorsitzende der Bundespartei hatte in den vergangenen Tagen mehrfach für ein offenes Europa plädiert und sich deutlich von gegenteiligen Äußerungen aus der Union distanziert.

Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz von der SPD bezeichnete die aktuelle Debatte als populistisch. Gesetzesverschärfungen seien für die Kommunen absolut zweitrangig: "Davon erwarten wir kaum praktische Wirkungen", sagte er der "Stuttgarter Zeitung". Mannheim gehört zu den Großstädten, in denen schon jetzt viele Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien wohnen.

Sowohl SPD-Chef Gabriel als auch EU-Kommissar Andor rieten dazu, für die Integration von EU-Migranten Gelder aus dem EU-Sozialfonds zu nutzen. Gleichzeitig müsse die Armut in den Heimatländern bekämpft werden, forderte Gabriel. Die dafür vorgesehenen EU-Mittel müssten Rumänien und Bulgarien aber auch abrufen: "Hier muss die Bundesregierung unterstützend eingreifen - und im Zweifel auch sanften Druck ausüben", fügte er hinzu. Die EU-Kommission will nach den Worten Andors Trainingsmaßnahmen für Beamte in den EU-Ländern anbieten, um "dabei zu helfen, das Recht auf Freizügigkeit für EU-Bürger vollständig zu verstehen und anzuwenden".

Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP

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