Ein Geschichtslehrer im Krieg "Ich will nicht, dass mein Kind die 'russische Welt' kennenlernt"
17.09.2022, 18:38 Uhr
Eine militärische Ausbildung hat Andrij nicht, helfen will er trotzdem.
(Foto: Privat)
Als Geschichtslehrer hat Andrij den Krieg vorausgesehen. Heute ist er Teil der ukrainischen Territorialverteidigung. Warum der Krieg ihm zufolge unvermeidlich war und welche Lösungen er für den Friedensschluss sieht, sagt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Wurden Sie eingezogen oder haben Sie sich freiwillig zum Dienst gemeldet?
Andrij: Ich bin freiwillig zur Territorialverteidigung gegangen. Es mag ein bisschen hochtrabend klingen, aber ich bin dorthin gegangen, um das Vaterland zu schützen. Ganz einfach: Ich möchte nicht, dass die Russen hierherkommen. Eine Kollegin von mir kommt aus Russland. Als sie vor 15 Jahren von dort kam, sagte sie: "Nur Moskau und St. Petersburg sind reich. Wer behauptet, dass die Menschen in Russland reicher und besser leben als in der Ukraine, war noch nie in Russland." Auf dem Land in Russland leben die Menschen schlechter als in jedem Dorf der Ukraine. Ich habe mich für die Gebietsverteidigung entschieden, damit mein Kind die "russische Welt" nicht kennenlernen muss.
Wollen Sie wieder als Geschichtslehrer unterrichten?
Ja, ab dem Moment des Sieges. Ich bin jetzt offiziell mobilisiert. Ich habe vorher nie gedient, ich habe keine militärische Erfahrung und ich bin sehbehindert. Aber ich kann im Hintergrund nützlich sein, an Kontrollpunkten oder für Papierkram.
Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?
Ich hatte einen Termin für eine Corona-Impfung und bin sehr früh aufgewacht. Ich habe die Nachrichten angeschaltet und gesehen, dass es in der ganzen Region Detonationen gab. Ich habe meine Frau geweckt und ihr gesagt, dass sie mit unserem Kind und ihrem Vater in den Westen der Ukraine gehen muss. Ich fuhr dann das Auto auftanken und meine Frau rief ihre Verwandten in der Nähe von Lwiw an, um ihnen zu sagen, dass sie zu ihnen fahren würde. Sie stimmten gerne zu, aber eine halbe Stunde später riefen sie zurück und sagten, sie säßen nun im Keller eines Bunkers. Ihre Wohnung liegt in der Nähe eines Flugplatzes, der ebenfalls beschossen wurde. Also beschlossen wir, dass sie doch nicht fährt. Ein paar Tage später war es nicht mehr möglich, mit dem Auto aus der Stadt zu kommen. Erstens gab es schreckliche Staus, und zweitens war die Wahrscheinlichkeit groß, beschossen zu werden. Aber als die Sirenen bei uns ertönten und wir selbst zum ersten Mal im Luftschutzkeller saßen, sagte meine Frau: Jetzt will ich fliehen, wir haben ein zweieinhalb Jahre altes Kind und man weißt nicht, ob im nächsten Moment in der Nähe eine Rakete einschlägt. Überleben kann man dann nur, wenn man schnell genug ausgegraben wird.
Haben Sie genug Waffen in Ihrer Einheit?
Alle sowjetischen Waffen, die es in der Ukraine gibt, sind im vollen Einsatz. In meinem Bataillon hatten wir schon Verwundete und Granatengeschädigte, und ich kenne viele, die an der Front gefallen sind. Ich würde deshalb gerne mehr Waffen haben, damit wir unerwünschten Beschuss verhindern können. Wir sind zu sehr aufs Glück angewiesen: Vielleicht kommt die Rakete, vielleicht aber auch nicht.
Sie sind Historiker - haben Sie den Krieg vorausgesehen?
Irgendwann im Dezember, Januar habe ich verstanden, dass etwas passieren würde. Seit Oktober gab es ständig Gerüchte, die Schulen und Universitäten seien vermint. Keiner wusste, was da vor sich ging. Zuerst dachte man, Jugendliche hätten sich einen Streich erlaubt, aber die Warnungen vor Minen wurden jeden Tag mehr. Dann meldete der ukrainische Sicherheitsdienst, dass Russland hinter den Gerüchten stecke. Die ukrainischen Behörden stellten fest, dass die Textnachrichten über die angebliche Verminung aus den besetzten Gebieten von Luhansk und Donezk kamen. Es handelte sich um Falschnachrichten, die Panik auslösen sollten. Dies geschah offenbar, um zu prüfen, wie die Sicherheitsbehörden in einem solchen Fall reagieren würden. Auch in den russischen Medien kam es zu einer deutlichen Eskalation. Wenn es um die Ukraine ging, war verstärkt von "Nazis" und "Banderisten" die Rede. So offen war das zuvor nicht ausgesprochen worden.
Jedenfalls hatte ich etwa einen Monat vor Kriegsbeginn immer einen vollen Tank im Auto. Und ich sagte meiner Frau, dass sie, wenn irgendetwas wäre, sofort ins Auto steigen und nach Westen fahren muss. Aber natürlich habe ich nicht mit einem solchen Ausmaß gerechnet.
Kann man sagen, dass dieser Krieg unvermeidlich war?
Ja, in gewisser Weise war das seit 2014 klar. Hier kann man sehr gut Parallelen zum ersten und zweiten Tschetschenienkrieg ziehen. Im ersten Tschetschenienkrieg erhielt Russland eine Ohrfeige. Sie unterzeichneten das Abkommen von Chassawjurt, worin Russland den Abzug seiner Truppen zusicherte und Frieden versprach. Es vergingen einige Jahre, in denen die Russen ihre Kräfte sammelten, dann griffen sie erneut an. Allerdings hatten die Ukrainer mehr Glück als die Tschetschenen: Putin wurden falsche Informationen über die Kampffähigkeit und die patriotische Gesinnung der Ukrainer gegeben. Sie erwarteten, dass wir ihnen mit Brot und Salz entgegengehen würden. Außerdem ist die russische Armee offiziell zu 80 Prozent mit neuesten Waffen ausgestattet, dabei sind es in Wirklichkeit nur 5 oder 10 Prozent, weil die Führung das Geld eingesteckt hat. Die Korruption ist in Russland am besten entwickelt.
Was denken Sie über die Energiekrise in Europa. Wird Deutschland genug Gas haben?
Dank Merkel und Schröder hing Deutschland an der Gasnadel des Kremls. Im Internet kursieren bereits russische Witze, dass "Khokhly" [ein russisches Schimpfwort für Ukrainer] und "Faschisten" [die Deutschen] erfrieren werden. Die Propaganda funktioniert, aber niemand wird erfrieren. Die Wirtschaft wird allerdings Probleme haben.
Wann, glauben Sie, wird der Krieg zu Ende gehen? In Wochen, Monaten oder Jahren?
Ich hoffe, nicht in Jahren. Und sicher nicht schon in diesem Winter. Ich rechne mit eineinhalb oder zwei Jahren. Das Problem ist, dass der Westen nicht auf eine solche Intensität vorbereitet war. Sie haben nicht genug Waffen. Ich glaube sogar: Wenn Putin stirbt, geht der Krieg trotzdem weiter. Die Regierung wird nicht einfach aufhören.
Ist dieser Krieg ein Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung?
Russlands Vorgehen fällt unter die klare Definition des Begriffs Völkermord - die vorsätzliche Vernichtung einer bestimmten Gruppe von Menschen wegen ihrer ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. Was die Russen in der Ukraine machen, ist die physische Vernichtung, die Zwangsumsiedlung von Zivilisten, Folter, Vergewaltigung.
Warum deportieren die Russen ukrainische Kinder?
Das ist einfach, sie wollen neue Russen produzieren. Es ist der einfachste Weg, ihre Population zu vergrößern.
Was können die Ukrainer tun, um den Sieg zu beschleunigen?
Die einfachste Aufgabe besteht darin, als Nation zu überleben. Unsere Aufgabe ist es, diesen Krieg zu überstehen. Wir müssen gewinnen oder sie werden uns besiegen. Dazwischen gibt es nichts. In den Jahren 2013 und 2014 gab es noch Zwischenlösungen. Aber jetzt muss dieses Problem gelöst werden, sonst wird es immer wieder Opfer geben.
Mit Andrij sprach Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de