Israel nach dem Hamas-Massaker "Ihre Mission war, jeden Juden zu töten"
07.04.2024, 14:25 Uhr Artikel anhören
Am vergangenen Wochenende erlebte Tel Aviv die größten Demonstrationen seit dem 7. Oktober. Die Protestierenden forderten Neuwahlen und einen Deal zur Befreiung der Geiseln.
(Foto: IMAGO/Eyal Warshavsky)
Amir Tibons Stimme wird gehört in Israel. Der bekannte Journalist und Autor hat den Gewaltexzess vom 7. Oktober mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern knapp überlebt, ihr Kibbuz liegt nur 700 Meter von der Grenze zu Gaza entfernt. Über den Hass der Hamas hatte er sich nie Illusionen gemacht, doch etwas anderes erschüttert ihn bis heute.
ntv.de: Herr Tibon, Ihr Kibbuz Nahal Oz wurde von der Hamas verwüstet. Wohin kamen Sie nach dem Massaker?
Amir Tibon: Wir wurden noch am 7. Oktober nach zehn Stunden, die wir uns im Schutzraum unseres Hauses verschanzt hatten, evakuiert und nach Mischmar haEmek gebracht. Dieser Kibbuz liegt im Norden Israels, etwa drei Autostunden von unserem Zuhause entfernt. Unser Kibbuz ist fast komplett aufgenommen worden. Die Bewohner haben für uns ein Internat aufgelöst, alle Kinder nach Hause geschickt und jede geflüchtete Familie hat eines der Zimmer bekommen.

Der israelische Journalist Amir Tibon überlebte knapp das Hamas-Massaker. Sein Buch darüber, "Die Tore von Gaza" ist auch auf deutsch bei Suhrkamp erschienen.
Wie war so schnelle und effektive Hilfe möglich?
Das haben die Menschen im Kibbuz geschafft. Sie hatten null Unterstützung, die Regierung ist am 7. Oktober untergetaucht, verschollen. Und sie blieb verschollen am 8. Oktober, am 9. und viele weitere Tage. Unsere Regierung war kein Faktor. Aber darauf war die Kibbuz-Bewegung vorbereitet. Schon vor zehn Jahren hat man eine Struktur entwickelt, die jedem Kibbuz an der Grenze eine Partnergemeinde zur Seite stellt, für den Ernstfall. Mischmar haEmek ist unser Partner. Alle Hilfe, die wir bekamen, haben die Bewohner hier selbst auf die Beine gestellt. Jede Zahnbürste für uns haben sie selbst besorgt, wir kamen ja mit nichts, wir hatten nicht mal Schuhe an. Während wir noch in Nahal Oz in unserem Schutzraum hockten und draußen die Maschinengewehrsalven der Hamas hörten, haben die Leute hier schon Matratzen geschleppt, weil sie wussten, dass wir kommen würden.
Können Sie für Ihr Kibbuz ein paar Koordinaten des Traumas geben?
Als der Staub sich legte nach einigen Tagen und mehr Informationen ihren Weg zu uns fanden, wurden wir gewahr, dass Nahal Oz 15 Menschen verloren hatte. Wir haben in den ersten Tagen nach dem Massaker permanent Nachbarn und Freunde beerdigt. 15 Bewohner von 450, drei Prozent der Bevölkerung.
Das wären in Berlin etwa 120.000 Tote.
Zwei der Ermordeten waren direkte Nachbarn von uns. Ich traf sie früher morgens, wenn ich die Kinder in die Kita gebracht habe. Sieben Menschen wurden als Geiseln genommen. Zwei von ihnen sind immer noch in der Hand der Hamas - Omri, 46 Jahre alt, und Zachi, 49. Seine achtzehnjährige Tochter Mayan wurde vor seinen Augen umgebracht, dann wurde er verschleppt. Seitdem haben seine Frau und die drei noch lebenden Kinder nichts mehr von ihm gehört. Die Qualen, durch die all diese Geiselfamilien gehen, sind nicht vorstellbar. Wir alle aus Nahal Oz haben die ersten anderthalb Monate nach dem Massaker nur überlebt dank der Hilfe der Menschen hier. Viele von uns waren kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Um viele meiner Freunde hatte ich deshalb große Angst. Inzwischen würde ich sagen, dass wir psychisch etwas stabiler sind.
Konnte irgendwann wieder so etwas wie Alltag für Sie stattfinden?
Die Bewohner von Mischmar haEmek haben ein Gemeindehaus geräumt und dort am 9. Oktober einen Kindergarten aufgemacht. Meine Töchter gingen dann dorthin. Stück für Stück haben wir alle unser temporäres Leben hier zusammengesetzt. Nach zwei Wochen habe ich wieder angefangen, für die Zeitung zu arbeiten und dann an dem Buch über den 7. Oktober. Der alte Arbeitsplatz meiner Frau liegt drei Autostunden entfernt. Sie hat in Mischmar haEmek einen Job gefunden. Einige meiner Nachbarn sind nach dem Massaker in die Reserve der Armee gegangen. Sie mussten ihre Familien in diesem Trauma zurücklassen.
Wie trifft man als israelische Familie mit zwei kleinen Kindern die Entscheidung, 700 Meter von der Grenze zu Gaza entfernt zu leben?
Für diese Antwort muss ich etwas ausholen. In Nahal Oz hatten wir für den 7. Oktober eine große Feier geplant, zum 70-jährigen Bestehen des Kibbuz. Er wurde gegründet im Oktober 1953 von einer Gruppe blutjunger Leute - 18 oder 19 Jahre alt. Sie gehörten einer Spezialeinheit des Militärs an und erhielten nun eine zivile Mission. Der Auftrag für diese 70 Frauen und Männer lautete: Gründet einen Kibbuz direkt an der Grenze zu Gaza. Wenn Sie dort im Süden unterwegs sind, wenn Sie von der Landstraße abbiegen in Richtung unseres Kibbuz, erscheint vor Ihren Augen am Horizont Gaza Stadt, die Stadt liegt auf einer Anhöhe nahe an der Grenze. Sie fahren direkt auf Gaza Stadt zu und wenn Sie das Gefühl haben, gleich an die Grenze zu stoßen, dann taucht unser kleiner Kibbuz Nahal Oz auf.
Warum erhielten die 18-Jährigen damals diesen Auftrag?
Das war ein Teil unserer Sicherheitsstrategie. Damals in den 50ern hatte Israel eine Sicherheitsstrategie, heute haben wir sowas nicht. (lacht) David Ben-Gurion, unser damaliger Premier, sagte: "Wir müssen ziviles Leben an unseren Grenzen haben." Zum einen, um den Gegner abzuschrecken, zum anderen, um folgende Botschaft zu senden: Israel, dieses junge Land, gerade erst gegründet, wird hier bleiben, genau hier. Das sollten die Gegner verstehen. Denn erinnern Sie sich: In Gaza lebten damals etwa 350.000 Menschen und zwei Drittel von ihnen waren Flüchtlinge des Krieges von 1948. Sie hatten ihre Heimat verloren, erst fünf Jahre zuvor, sie wollten zurückkehren. Ben-Gurion dachte, dass sie jenseits der Grenze mehr sehen müssten als nur Militärbasen. Einen Militärstützpunkt haben Sie in zwei Tagen abgebaut, das ist kein Statement. Aber Dörfer, Kindergärten, Krankenhäuser, Schulen, Bauernhöfe - die sind ein Statement. Als solches wurde Nahal Oz gegründet, mit der Idee, Israels Grenzen zu stärken. Das Gegenteil zur heutigen Siedlerbewegung in der Westbank. Die hat das Ziel, Israels Grenzen zu verwischen.
Wie lange hat es damals gedauert, bis die erste Granate aus Gaza einschlug?
Eine Sicherheitsbedrohung für den Kibbuz gab es von Tag 1 an. Die erste Granate kam 1955, zwei Jahre nach der Gründung. Im dritten Jahr wurde der Sicherheitschef von Nahal Oz durch einen gezielten Angriff aus Ägypten getötet, als er morgens mit seinem Pferd über die Felder ritt. Da erst haben die Bewohner realisiert, dass sie auch einen Friedhof brauchen würden. Als 20-Jährige hatten sie gedacht, sie würden niemals sterben.
Hatte dieses erste Todesopfer im Kibbuz eine Änderung der Strategie zur Folge?
Zu seinem Begräbnis kam damals Moshe Dayan, der Chef der israelischen Armee. Er hielt eine Rede, die legendär wurde. Er sagte, wir sollten nicht den Palästinensern die Schuld an diesem Tod geben, wir selbst seien schuld. Wir hätten ihre Perspektive nicht gesehen, dass wir ihnen ihr Land genommen haben. Wir hätten nicht verstanden, dass sie Rache wollten und seien unvorsichtig geworden. Wir hätten versagt. Eine ikonische Rede aus dem Jahr 1956. Sie könnte von heute stammen.
Wann sind Sie selbst nach Nahal Oz gekommen?
Über die Jahre gab es immer wieder Angriffe, immer wieder Tote. Aber 2014, als Israel und Gaza mal wieder im Krieg waren, wurde vier Tage vor Ende des Krieges, als die Kampfhandlungen schon deutlich abnahmen, ein Kind von einer Granate getroffen. Daniel Triggerman, vier Jahre alt. Als dieses Kind starb, haben quasi über Nacht 17 Familien den Kibbuz verlassen. Es sah aus, als hätte er keine Zukunft mehr. Aber dann entstand eine Gegenbewegung, aus allen Teilen des Landes kamen junge Leute in den Kibbuz. Meine Frau und ich waren ein Teil dieser Bewegung. Unsere Freunde in Tel Aviv haben uns für verrückt erklärt, aber wir sind nach Nahal Oz gezogen. Damals waren wir sehr jung und suchten nach Gehalt für unser Leben, nach einem übergeordneten Ziel. Solch eine Bedeutung kann man in der Gemeinschaft finden. Als Teil von etwas größerem. Wir haben in der Gemeinschaft des Kibbuz und in der Stärkung der Landesgrenze unsere "Mission" gefunden. Nach zwei Jahren hatte Nahal Oz wieder genauso viele Einwohner wie vor dem Krieg. Meine Kinder sind dort geboren. Die Bedrohung aus Gaza haben wir in unseren Alltag integriert, wie das alle taten.
Wieviel Zeit haben Sie in Nahal Oz, um einen Bunker zu finden, wenn die Sirene losgeht?
Sieben Sekunden. So nah, wie wir an Gaza dran sind, fallen wir nicht mehr unter den Schutzschirm des Iron Dome, also der israelischen Luftverteidigung. Wir haben sieben Sekunden, bevor die erste Rakete einschlagen kann. Wenn Sie auf dem Spielplatz sind: Ein Kind rutscht, eins ist auf der Schaukel. Was tun Sie? Wie beide rechtzeitig greifen? Welches zuerst? Der Alarm erwischt Sie unter der Dusche - das ist meine rote Linie. Ich geh nicht wegen der Sirene aus der Dusche.
Wie sehr hat die Bedrohung ihr Lebensgefühl geprägt?
Unser Leben war 1 Prozent Hölle und 99 Prozent Paradies. Das ist schwer zu verstehen, man muss das eigentlich selbst erleben. Im Kibbuz fahren keine Autos, jeder kennt jeden, meine Kinder liefen überall rum, wie sie wollten. Zum Laden, um sich Bonbons zu kaufen, sie besuchten die Esel und die Kühe. Sie haben ihr Leben geliebt in Nahal Oz.
Wo sehen Sie Ihr Leben zukünftig? Wie hat der 7. Oktober Ihre Vision verändert?
Zunächst mal: Ich glaube, wer den 7. Oktober miterlebt hat, ohne dass es die eigene Sicht auf die Welt verändert, braucht wirklich dringend psychologische Hilfe. Für mich kann ich sagen: Ich war mir immer sicher, was die Hamas angeht. Ich wusste, die wachen da in Gaza jeden Morgen auf und denken darüber nach, wie sie uns umbringen können. Das war ihre Mission, jeden Juden zu töten. Ich werfe unserem Premier Benjamin Netanjahu vor, dass er der Hamas, dieser Bestie, erlaubt hat zu wachsen. Ganz einfach, weil es seinen politischen Interessen diente. Er hat zugelassen, dass die Terroristen von Katar mit Geld versorgt wurden, weil eine gespaltene palästinensische Bevölkerung - mit der Hamas in Gaza und der Autonomiebehörde im Westjordanland - ihm zupass kam. Er konnte dann sagen: "Mit wem soll ich denn verhandeln? Die Palästinenser sind sich ja selbst nicht einig." Also dass die Hamas ein Monster ist, war immer klar. Was mich erschüttert hat, das war die zweite Welle.
Die palästinensischen Zivilisten?
Genau, diejenigen, die nach den Terroristen in die Kibbuze kamen, gestohlen und gebrandschatzt haben. Und viele von ihnen wurden auch Teil der bestialischen Gewaltakte. Das hat etwas in mir zerstört. Ich hatte immer die Hoffnung, dass es Menschen in Gaza gibt, die anders denken. In Nahal Oz haben 100 Palästinenser gearbeitet, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Sie kamen jeden Morgen über die Grenze zu uns. Einer meiner Nachbarn hat regelmäßig schwer kranke Menschen aus Gaza an der Grenze abgeholt und ins Krankenhaus nach Jerusalem gefahren, zur Behandlung. Wir dachten: Da sind Menschen, die ein anderes Leben wollen, eine andere Zukunft.
Würden Sie nach Nahal Oz zurückkehren?
Ja, aber das liegt nicht in unserer Hand. Das hängt von Faktoren ab, die wir nicht beeinflussen.
Welche sind das?
Nummer 1: die Geiseln. Wir brauchen sie lebend zurück und dafür müssen wir einen Deal mit dem Teufel machen. Ich werde nicht in der Lage sein, am Haus meines Nachbarn Omri vorbeizugehen, wenn ich weiß, dass wir ihn in den Tunneln der Hamas im Stich gelassen haben. Undenkbar, das schaffe ich nicht.
Nummer 2: die Zukunft in Gaza. Wir müssen einen Plan haben für Tag 1 nach dem Krieg. Den gibt es nicht. Ich persönlich würde eine arabische Koalition befürworten aus Jordanien, Ägypten, den Saudis, den Emiraten - sie könnten Gaza für einige Jahre kontrollieren und dann könnte sich eine Regierung dort bilden, unabhängig von der Hamas. Aber dafür müssen wir jetzt Entscheidungen treffen und den Weg ebnen. Stattdessen passiert: nichts.
Nummer 3: der Wiederaufbau. Viele sind bereit zur Rückkehr, aber bei unseren Kindern werden wir keine Kompromisse machen. Die Grenzorte müssen nicht nur wieder aufgebaut werden, sondern sie müssen besser werden, schöner, mit den besten Möglichkeiten, der besten Lebensqualität. Sie müssen das Trauma aufwiegen, damit wir zurückkehren können.
Mit Amir Tibon sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de