Politik

"Wir brauchen sie lebend" Für die Geiseln sucht Israel den "Pakt mit dem Teufel"

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Die 134 noch festgehaltenen Geiseln - Israels Großstädte sind mit ihren Portraits gepflastert.

Die 134 noch festgehaltenen Geiseln - Israels Großstädte sind mit ihren Portraits gepflastert.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Seit langer Zeit erstmals ein Hoffnungsschimmer: Im Zerren um den Geisel-Deal in Katar scheint eine Lösung in Sicht. Für Israel könnte es ein erster Schritt aus dem Trauma sein.

In Katar komme man einem Deal "immer näher", sagt US-Außenminister Anthony Blinken über die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas. Die Terrorgruppe will bei den Gesprächen im Golfemirat erreichen, dass die israelische Offensive beendet wird. Israel erhofft sich Rettung für die noch Lebenden unter den 134 Geiseln, die seit dem Massaker am 7. Oktober in der Gewalt der Hamas sind.

Jetzt also ein Hoffnungsschimmer, erstmals nach Wochen, in denen die israelischen Unterhändler nur indirekt, via Moderation durch die USA, Ägypten und Katar mit den Terroristen verhandeln? Dani Miran will das lieber gar nicht wissen. Nichts von Vorschlägen und kritischen Punkten, bloß keine Details zu diesen Gesprächen, am liebsten wüsste er nicht mal, dass sie überhaupt stattfinden. Warum Dani Miran das nicht wissen will? Weil diese Verhandlungen am Ende darüber entscheiden könnten, ob er seinen Sohn Omri lebend wiedersieht.

Seinen Bart will Dani Miran erst abrasieren, wenn sein Sohn wieder frei ist.

Seinen Bart will Dani Miran erst abrasieren, wenn sein Sohn wieder frei ist.

(Foto: Frauke Niemeyer)

Miran ist stark genug, um öffentlich für die Freilassung der 134 Verschleppten einzutreten. Er schafft es, vor Politikerinnen und Journalisten von dem Moment zu erzählen, als sein Sohn ihm an jenem Samstagmorgen per Textnachricht schrieb, er habe sich mit der Familie im Haus verschanzt, die Hamas versuche die Tür einzutreten. Dann kamen keine Nachrichten mehr. Detailliert kann Miran über sein Trauma in Kameras und Mikrofone sprechen, und er bleibt gefasst dabei. Aber den Fortgang des Ringens um einen Deal in Katar zu verfolgen - das geht über seine Kräfte.

Vor drei Monaten hat Omri gelebt

"Ich setze keine Hoffnung in die Verhandlungen. Ich habe zu viele Hoffende erlebt, deren Glaube an eine Lösung dann zerschmettert wurde", sagt Miran, wenn man ihn trifft in Tel Aviv. Ein alter Mann mit freundlichem Blick und weißem Rauschebart. Den will er erst abrasieren, wenn er es Seite an Seite mit Omri tun kann, den er nach fünfeinhalb Monaten Gefangenschaft nun auch mit Bart vermutet. Er sagt das lächelnd. Sein Sohn, 46 Jahre alt, selbst Vater zweier Mädchen, verheiratet. Seine Familie konnte am 7. Oktober gerettet werden, aber Omri wurde verschleppt.

Seit 166 Tagen wird er festgehalten, versteckt, vermutlich im Tunnelsystem unter dem Gazastreifen, und immerhin, Hoffnung darauf, dass sein Sohn noch lebt, gibt es: Als die ersten Gruppen von Geiseln freigelassen wurden, Ende November, berichteten zwei junge Frauen, sie hätten auf dem Weg durch die Tunnel zur Übergabe Omri gesehen, am Leben. Das ist alles, was Dani Miran hat, alles, an dem sich auch Omris Frau und die Mädchen bis heute festhalten: Vor drei Monaten hat er gelebt.

Etwa 35 der Geiseln hingegen sollen in Gefangenschaft gestorben sein, das hat die Hamas eines Tages mitgeteilt, ohne Angabe der Namen. Viele der Entführten waren verletzt, besonders die Alten brauchen Medikamente. Israel erinnert noch, wie in zurückliegenden Jahren nach zähen Verhandlungen Geiseln im Sarg nach Hause kamen. Die Zeit spielt gegen sie.

Und in Doha wird verhandelt, immer neue Runden, seit Wochen, vierzehn Tage sind für diese Runde angesetzt. Einen Deal müssen die Israelis erreichen mit exakt denjenigen, die ihnen vor einem knappen halben Jahr das bestialischste Leid angetan haben, das Juden seit dem Holocaust widerfahren ist. Der Gewaltexzess der Hamas, dem 1200 Menschen zum Opfer fielen, wirft einen monströsen Schatten auf das Land. Die Israelis müssen darüber springen.

Eine militärische Lösung scheint es nicht zu geben

"A deal with the devil", einen Pakt mit dem Teufel nennt der israelische Politik-Korrespondent und Buchautor Amir Tibon das, was in Doha herauskommen muss. Für Israel hätte der Deal einen hohen Preis. Zum einen die Freilassung von palästinensischen Häftlingen - und diesmal wären es nicht überwiegend Frauen und jugendliche Straßenkämpfer, sondern solche, an deren Händen das Blut ermordeter Israelis klebt. Zum anderen würde ein Waffenstillstand den Terroristen Zeit schenken, um sich zu reorganisieren und Kraft zu sammeln. Der israelische Vormarsch in Gaza würde verlangsamt. Ein dritter Punkt ist vielen Israelis wichtiger: Dieser Deal käme wie eine Botschaft an Terroristen, in Israel und anderswo: Willst du etwas erreichen, dann sind Entführungen das Mittel der Wahl.

Allein, es fehlt an einer Alternative zum Pakt mit dem Teufel. "Durch militärischen Erfolg sind bislang drei Geiseln befreit worden, gegenüber 100 Geretteten durch die Verhandlungen im letzten Winter", sagt Amir Tibon ntv.de. Er ist eine Stimme, die im Land gehört wird und sich stark macht für ein Ergebnis in Doha. Weil er keine andere Chance sieht: Drei von der Hamas Gefangene wurden irrtümlich von den eigenen Streitkräften erschossen. Eine militärische Lösung sieht in den Streitkräften niemand, auch wenn einige in der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu den Eindruck vermitteln wollen, die Militäroffensive könnte auch für die Geiseln die Rettung bedeuten.

Wie viele Israelis traut Tibon Netanjahu nicht über den Weg, aber dennoch sieht er Perspektiven: "US-Präsident Joe Biden will den Deal, Ägypten und Katar wollen ihn, und in Israel, sogar in der Hamas, gibt es Leute, die ihn wirklich wollen." Neben israelischen Sicherheitsexperten und den Verhandlern selbst, zu denen der einflussreiche Mossad-Chef David Barnea zählt, ist es auf der Gegenseite vor allem die Hamas-Führungsriege, die in Doha in Luxushotels residiert. "Sie scheinen ihre 7.-Oktober-Euphorie inzwischen größtenteils verloren zu haben und realisieren, dass sie von Katar ausgewiesen werden könnten, wenn sie dem Deal im Weg stehen."

Auch Katar braucht den Deal

Denn die Kataris engagieren sich nicht ohne eigene Agenda als Vermittler: Mit sehr viel Geld aus Doha ist die Hamas in den vergangenen Jahren so potent geworden, wie sie sich am 7. Oktober gezeigt hat. "Wenn die Geiseln sterben, sitzt dieser Stachel auch im Fleisch der Kataris. Sie brauchen den Deal, um sich der Welt mit einem positiven, moderierenden Einfluss zu präsentieren. Darum machen sie Druck auf die Hamas-Führung in Katar."

Eine entscheidende Frage wird nun sein, ob dieser Druck auch den obersten Führer der Terrorgruppe, Jihia al-Sinwar, erreicht. Der nicht in Katar sitzt, sondern mutmaßlich im Tunnelsystem unter dem Gazastreifen. Und ebenso maßgeblich wird ein Deal davon abhängen, wie sehr sich Netanjahu von seinen rechtsradikalen Partnern erpressen lässt, die so sehr dagegen sind, dass sie ihm mit Bruch der Koalition drohen. "In gewisser Weise", sagt Tibon, "ist Netanjahu auch eine Geisel".

Dass auch aus dem Militärapparat heraus Argumente für eine Waffenruhe kommen, überrascht nur auf den ersten Blick. Denn während die Kämpfe in Gaza laufen, wird die Nordfront an der Grenze zum Libanon derzeit immer heißer. Viele israelische Militärs sehen ein hohes Risiko, dass sich der Raketenbeschuss zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz nun doch zu einem Krieg ausweiten könnte. "Ein Krieg mit dem Libanon würde ein totales Desaster", sagt Tibon. "Die Hisbollah ist in der Lage, große Teile der Region um Tel Aviv zu zerstören und Israel legt Beirut in Trümmer. Es gäbe Tausende Tote auf beiden Seiten, darum will jeder einen solchen Krieg vermeiden."

"Damit könnte ich nicht leben"

Wovon sich viele in den israelischen Streitkräften eine Entspannung der Lage versprechen, wäre ein Waffenstillstand im Gazastreifen. Denn die Hisbollah-Angriffe aus dem Libanon sind nichts anderes als "solidarisches Feuer" für die unter Druck geratene Hamas. So sprechen handfeste militärische Erwägungen für den verhassten Deal mit der Hams, doch auch Israel als Zivilgesellschaft braucht ihn. Darum blicken die 134 Geiseln von unzähligen Postern im ganzen Land. "Bring them home now", bringt sie jetzt nach Hause, steht darunter. Im Zentrum von Tel Aviv veranstalten die Unterstützer der Geiselfamilien seit Monaten Demos und Konzerte. Ein begehbarer Tunnelnachbau erinnert daran, dass die Geiseln höchstwahrscheinlich seit fünfeinhalb Monaten unter Tage sind.

"Solange die Geiseln noch immer in Gaza sind, können wir den 7. Oktober nicht hinter uns lassen, nicht mal den Heilungsprozess starten", sagt Amir Tibon. Er selbst und seine Familie haben den Anschlag auf ihr Kibbuz überlebt, doch er hat 15 Nachbarn verloren. Zwei Freunde von ihm sind unter den Gefangenen in Gaza. Und so wie Tibon hat jeder in diesem kleinen, familiären Israel Angehörige, Kollegen, Nachbarn, die sich in der Gewalt der Schlächter vom 7. Oktober befinden. Daran, dass weiblichen Geiseln in Gaza sexuelle Gewalt angetan wird, besteht kein Zweifel.

"Wir brauchen sie zurück, lebendig", sagt Tibon, auch, um dann die Kibbuze wieder aufzubauen. "Es wird für mich schwierig genug, jeden Morgen das Haus zu sehen, in dem ein Freund von mir ermordet wurde. Aber das kann ich mir vorstellen. Was ich mir nicht vorstellen kann: am Haus meiner entführten Nachbarn vorbeizugehen, im Wissen, dass sie im Stich gelassen wurden. Damit könnte ich nicht leben."

Quelle: ntv.de

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