Interview mit Alexander Oetker "In Frankreich gibt es Leidenschaft für Protest"
31.03.2019, 13:26 Uhr
Das Restaurant Fouquet's auf den Champs-Élysées in Paris steht am 16. März in Flammen.
(Foto: dpa)
Die Samstage der Gewalt in Frankreich gehen weiter, auch wenn die Zahl der Demonstranten nachlässt. Wer sind die Gelbwesten? Und was haben sie schon erreicht? Fragen an den Frankreichexperten Alexander Oetker.
n-tv.de: Brennende Nobelrestaurants in Paris, Ausschreitungen in vielen Städten im ganzen Land - wie können die Franzosen immer noch hinter den Gelbwesten stehen?

Alexander Oetker war mehrere Jahre Leiter des Frankreich-Studios von RTL und n-tv in Paris. Mittlerweile arbeitet er in Berlin. Seine Krimis spielen allerdings alle in Frankreich.
(Foto: Gene Glover)
Alexander Oetker: Das tun sie nicht mehr, zumindest in weiten Teilen der Bevölkerung nicht. Das Ausmaß der Gewalt hat die Franzosen überrascht. Besonders, nachdem wichtige Forderungen der Demonstranten von Präsident Macron erfüllt wurden: Die Rücknahme der Steuererhöhungen auf Diesel etwa.
Am Anfang der Proteste waren die Franzosen mehrheitlich auf der Seite der Demonstranten. Wie konnte sich das umkehren?
Die Politik hat wirklich weitreichende Zugeständnisse gemacht: So haben über fünf Millionen arme Franzosen in diesen Tagen einen Scheck ins Haus bekommen, der durchschnittlich 200 Euro an Kosten für Energie, für Strom, Gas oder Heizöl deckt - einfach so, als Geschenk. Das war eine klare Folge der Gelbwestenproteste. Und es soll zeigen: Macron hat verstanden und setzt es um. Mir ist aus Deutschland kein vergleichbarer Fall erinnerbar, wo Politik so schnell und so direkt auf Proteste reagiert hat. Doch dass es dann weiter Gewalt auf den Straßen gab, auch sinnlose Zerstörungen, wie die des Nobelrestaurants Fouquet’s, das hat die Franzosen am Ende gegen die Gelbwesten aufgebracht.
Warum ist Macron denn das erklärte Feindbild der Gelbwesten?
Ehrlich gesagt frage ich mich das auch. Natürlich: Macron galt von Anfang an als ultraliberal, er war Rothschild-Banker und hat als Wirtschaftsminister Reformen durchgeführt. Doch er hat verstanden und wandelt sein Image ganz gravierend - ebenso sind seine Reformvorschläge für Europa mit interessanten sozialen Politikansätzen verbunden, auch wenn Deutschland dies weitgehend ablehnt. Nein, ich kann wirklich nicht verstehen, warum es Macron nun derart heftig erwischt. Oder anders: Warum es dann bisher so ruhig war. Sarkozy war ein Präsident der Firmenbosse, hat das einfache Volk auf ganzer Strecke im Stich gelassen. Und auch der Sozialist Hollande hat die wichtigsten Sozialreformen einfach ausgesessen.
Sie haben den Vergleich zu Deutschland gezogen. Auch hier haben Menschen finanzielle Probleme und Sorgen vor Armut. Warum erleben wir keine Gelbwestenproteste?
Ich glaube, dass solche langanhaltenden und zum Teil die Städte lahmlegenden Proteste ohne echte Führung in Deutschland undenkbar sind. Schon traditionell wird in Deutschland anders protestiert als in Frankreich. In meiner Zeit als Korrespondent in Paris habe ich mehrfach im Jahr über Firmenschließungen von Industriekonzernen berichtet. Während in Deutschland mal demonstriert, höchstens aber mal gestreikt wird, haben vor einigen Jahren Arbeiter im Vienne ihre Fabrik mit Gasflaschen präpariert und gedroht: Schließt ihr das Werk, dann sprengen wir es in die Luft. Es gab auch Geiselnahmen, bei denen die Bosse im Unternehmen festgehalten wurden. Es gibt bei unseren Nachbarn also eine Leidenschaft für aufsehenerregenden Protest und eine größere Akzeptanz dafür. In Deutschland gilt dagegen alles, was mit Gewalt daherkommt, als verpönt. In Deutschland bleibt die Weste weiß, könnte man sagen. Ich glaube, dass Menschen in prekärer finanzieller Situation in Deutschland eher still leiden, statt zu protestieren. Das war in Frankreich nun auch einige Jahrzehnte so, aber nun erheben sie sich - auch weil sie spüren, dass ihre Proteste gehört werden und Dinge verändern können.
In Ihrem neuen Thriller beschreiben Sie die Kriminalität in den französischen Vororten, besonders um die Stadt Marseille. Welche Rolle spielen die stets umkämpften Banlieues bei den Protesten der Gilets jaunes?
Gut möglich, dass es vereinzelt Jugendliche aus den Vororten sind, die an gewalttätigen Protesten teilnehmen. Doch in der Mehrzahl sind die Protestler in gelben Westen männlich und weiß und stammen aus der französischen Unterschicht. Die Vororte sind derzeit nicht betroffen, es brennen Autos und Läden mitten in den französischen Innenstädten. Doch das ist wirklich kein Grund zur Beruhigung: Denn auch die Lage in den Banlieues ist nach wie vor prekär, die Jugendarbeitslosigkeit riesig und die Probleme - Kriminalität, Banden, Gewalt - sind längst nicht gelöst.
Mit Alexander Oetker sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de