Kämpfe im türkischen Cizre "Jeder sprach nur noch vom Tod"
17.09.2015, 13:18 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Neun Tage, bis zum 12. September, herrschte in der türkischen Stadt Cizre Ausgangssperre, neun Tage waren die rund 130.000 Einwohner von der Außenwelt abgeschnitten. In dieser Zeit war auch eine 37 Jahre alte Frankfurterin in der vorwiegend kurdischen Stadt, um Verwandte zu besuchen. Ihren Namen will sie aus Angst vor den türkischen Behörden nicht nennen.
Ihre Familie ist 1990 aus politischen Gründen aus Cizre geflüchtet, Sie leben seit 25 Jahren in Deutschland. Während der Ausgangssperre waren Sie auch in Cizre. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Vor Beginn der Ausgangssperre sind unzählige Polizisten, Soldaten und Sondereinheiten der türkischen Armee mit Panzern und Bussen nach Cizire gekommen. Am 4. September wurde die Ausgangssperre verhängt. Jeder hat nur versucht, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Noch während Menschen auf den Straßen waren, waren auch schon die ersten Schüsse zu hören. Bevor ich nach Cizre gefahren bin, hat mein Herz vor Freude geschlagen. Nun weint es vor Schmerz. Einjährige Kinder wurden ebenso getötet wie 50 Jahre alte Frauen und 70 Jahre alte Männer. Am ersten Tag der Ausgangssperre, zu Beginn der Schießerei, ist einer Mutter, während sie und ihr Mann versuchten, sich vor den Schüssen zu schützen, ihr 35 Tage altes Baby aus dem Arm gefallen. Durch die Ausgangssperre konnte kein Krankenwagen kommen, noch konnte es ins Krankenhaus gebracht werden, so dass es in der ersten Nacht der Sperre verstorben ist. Ich fühle mich einfach schlecht und finde keine Worte.
Hatten die Menschen Angst?
Ja, die Menschen hatten sehr große Angst vor einem Massaker. Stellen Sie sich vor, Sie sind eingesperrt und hören nur noch Schüsse. Keiner kann Ihnen zur Hilfe eilen und Sie wissen nicht, ob Sie der nächste Tote sind. Jede Sekunde lebt man zwischen Leben und Tod. Vor allem für die Kinder meiner Verwandtschaft, bei denen ich in der Zeit war, war es sehr schwer. Sie wollten, dass wir ihnen die Augen und Ohren zubinden, damit sie nichts sehen und nichts hören.
Konnten Sie aus dem Fenster schauen, um zu sehen, was draußen los war?
Nein, wir konnten nicht ans Fenster, weil ununterbrochen geschossen wurde. Und auch überall hin. Türen und Fenster mussten einfach geschlossen bleiben. Familien, die einen Keller hatten, sind in den Keller gegangen. In den Wohnungen sind wir sogar von der Wand weggeblieben, denn das Risiko war einfach zu groß, dass die Schüsse uns trafen. Es war eine Atmosphäre, die man nicht beschreiben kann. Jede Sekunde sucht man einen Platz, um sich vor den Schüssen zu schützen. Psychisch geht man ein, die Seele stirbt. Jeder redet nur noch vom Tod.
Hatten Sie Kontakt zu Nachbarn? Konnte man sich gegenseitig helfen?
Nein, meist wusste keine Familie, wie es um die andere Familie steht. Es gab keine Elektrizität, die Handyverbindungen funktionierten fast gar nicht und es gab auch kein Internet. Wenn dann mal tagsüber zwischendurch keine Schüsse zu hören waren, haben wir im Treppenhaus die Namen der Nachbarn gerufen um zu sehen, ob diese noch leben und antworten. Abends haben wir uns mit Feuerzeugen gegenseitige Zeichen gegeben. So konnte man auch sehen, wer noch lebt.
Hatten Sie ausreichend Nahrungsmittel?
Da die Menschen hier eher in Armut und von ihren täglichen Einnahmen leben, können sie nur einkaufen, wenn sie Lohn bekommen. Somit wird täglich nur das nötigste eingekauft. Durch die Ausgangssperre konnte man sich dann nur noch von dem ernähren, was zu Hause war. Und das war aufs Minimale begrenzt. Es gab kein Wasser, keine Nahrungsmittel und keinen Strom. Am schwierigsten war es für Familien mit Babys, denn die hatten keine Babymilch und keine Windeln.
Gab es medizinische Versorgung?
Die Apotheken waren zu und es fuhren weder Krankenwagen noch konnte man selber ins Krankenhaus. Ein Mann erlitt einen Schlaganfall und wurde gelähmt, weil es keine ärztliche Hilfe gab. Es gibt viele solche Beispiele. Es gab auch schwangere Frauen, die in der Zeit entbunden haben. Diese Frauen konnten weder ins Krankenhaus noch konnten ihnen Nachbarn zur Hilfe eilen. Meine Cousine erlitt eine Fehlgeburt.
Was war das Schlimmste in dieser Zeit für Sie?
Bei den Kämpfen wurden 21 Zivilisten getötet, darunter Kinder und das 35 Tage alte Baby. Das ist schlimm, aber noch grauenhafter war, dass diese Menschen ihre Toten nicht beerdigen konnten. In einem Viertel neben unserem wurde eine 53 Jahre alte Mutter von sieben Kindern getötet. Wegen der Ausgangssperre konnte sie nicht beerdigt werden. Sie wurde in eine Kühltruhe gelegt, in der sonst Hähnchen aufbewahrt wurden. Als es dann keinen Strom mehr gab, hat es in den Wohnungen nach Toten gerochen. Die jeweiligen Familien hat das psychisch sehr getroffen.
Das Interview führte Leylan Uca
Quelle: ntv.de