Strafanzeige im Fall "Corelli" Linke vermuten Unterdrückung von Beweisen
13.05.2016, 21:20 Uhr
Uwe Mundlos (v.l.), Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt.
(Foto: dpa)
Erneut schreibt der Verfassungsschutz ein neues Kapitel seiner undurchschaubaren Rolle bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen. Wie kann es sein, dass erst jetzt auftaucht, was jahrelang in einem Schrank der Behörde lagert? Die Opposition will das genau wissen.
9.9.2000:
Der türkischstämmige Blumenverkäufer Enver S. wird in Nürnberg erschossen.
19.1.2001:
Der NSU verübt einen Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft in Köln. Eine junge Deutsch-Iranerin wird schwer verletzt.
13.6.2001:
Der Schneider Abdurrahim Ö. wird in Nürnberg erschossen. Tatwaffe ist wie bei dem ersten Mord in Nürnberg und bei sieben weiteren eine Ceska, die später in Zwickau gefunden wird.
27.6.2001:
Der NSU ermordert in Hamburg den Gemüsehändler Süleyman T.
29.8.2001:
Händler Habil K. wird in München das nächste Opfer des NSU-Terrors.
25.2.2004:
In Rostock wird der Imbiss-Verkäufer Yunus T. erschossen.
9.6.2004:
Bei einem Nagelbombenanschlag in der überwiegend von Türken bewohnten Keupstraße in Köln-Mülheim werden 22 Menschen verletzt.
9.6.2005:
Ismail Y., ein Imbissbuden-Besitzer aus Nürnberg, wird das sechste Opfer des NSU.
15.6.2005:
Der Mitinhaber einer Schlüsseldienstes, Theodoros B., wird in München erschossen.
4.4.2006:
Der NSU erschießt den Kioskbetreiber Mehmet K. in Dortmund.
6.4.2006:
Das vorletzte Todesopfer des NSU wird Halit Y., der in seinem Internet-Café in Kassel stirbt.
25.4.2007:
Auf einem Parkplatz in Heilbronn ermordet der NSU die Polizistin Michèle K.
Hinzu kommt im November 2011 die Brandstiftung in dem Unterschlupf des NSU in Zwickau. Das Terror-Trio soll zudem mehrere Banken ausgeraubt haben. Außerdem sind die Todesumstände von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ungeklärt. Sie sollen sich jeweils selbst erschossen haben. Das BKA vermutet jedoch, dass Mundlos zunächst Böhnhardt und dann sich selbst tötete.
Nach neuen Ungereimtheiten beim Verfassungsschutz in der NSU-Affäre hat die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner die Justiz eingeschaltet. Sie habe nach dem unerwarteten Fund eines Handys des Geheimdienstinformanten "Corelli" Strafanzeige wegen Unterdrückung von Beweisen gestellt, sagte Renner in Berlin. Der 2014 verstorbene V-Mann des Verfassungsschutzes war im Umfeld des rechtsextremen NSU aktiv.
Renner sagte, bei der am Donnerstag bei der Staatsanwaltschaft Berlin eingegangenen Anzeige gegen unbekannt gehe es um die Unterdrückung von Beweismitteln und alle damit im Zusammenhang stehenden möglichen Straftatbestände. Angesichts der wiederholten Unregelmäßigkeiten beim Umgang mit Beweisen müsse nicht mehr nur ein disziplinarrechtliches Vorgehen gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), sondern auch eine mögliche "Organisationsverantwortung" geprüft werden.
"Corelli", der mit bürgerlichem Namen Thomas R. hieß, soll das Mobiltelefon vier Monate lang genutzt haben, bevor er es 2012 bei der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm seinem Kontaktmann beim Verfassungsschutz übergab. Anschließend lag das Gerät unbeachtet in einem Panzerschrank der Behörde, ehe es im Juli 2015 bei einem Bürowechsel gefunden wurde.
Bislang nur "Schutzbehauptungen"
Erst in diesem Frühjahr ordnete der Verfassungsschutz das Handy offenbar eindeutig "Corelli" zu. Am Mittwoch informierte die Behörde den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages über den Fund. Das Handy wurde dem Bundeskriminalamt zur weiteren Auswertung übermittelt. Auf dem Gerät sollen Kontaktdaten aus der rechten Szene sowie zahlreiche Fotos gespeichert sein.
Renner warf dem Verfassungsschutz vor, ein wichtiges Beweismittel unter Verschluss gehalten zu haben. Spätestens im vergangenen Jahr hätte dem BfV "vollumfänglich" bekannt gewesen sein müssen, "welche Beweismittelqualität das Handy hat". Die Darstellung des Verfassungsschutzes, dass das Mobiltelefon lange unentdeckt geblieben sei, bezeichnete die Linken-Abgeordnete als "Schutzbehauptung".
Ein im November vorgelegter Sonderbericht des für die Geheimdienstkontrolle zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Verfassungsschutz frühe Hinweise auf den NSU ignoriert habe. So habe "Corelli" dem Amt 2005 eine CD mit einem Hinweis auf die Existenz des NSU gegeben, die aber nie ausgewertet worden sei.
Noch viele Fragen offen
"Corelli" gilt als Schlüsselfigur im NSU-Skandal. Seine Informationen könnten Aufschluss darüber geben, ob und wie tief der Verfassungsschutz in die Aktivitäten der rechtsterroristischen Gruppe verwickelt war. Als er vor zwei Jahren starb, gab es viele Spekulationen um seinen Tod. Offiziell starb der 39-Jährige überraschend an einer nicht entdeckten Diabeteserkrankung.
Noch völlig unklar ist, warum "Corelli" so schwer krank sein konnte, ohne dass dies bekannt war. Schließlich hatte er nach seiner Enttarnung 2012 im Zeugenschutzprogramm gelebt. Eigentlich hätte man alles über den Mann wissen müssen, der mit dem Terroristen Uwe Mundlos bei der Bundeswehr war, der sogar in Diensten des Klu-Klux-Klan stand und der - nach allem was man heute weiß - Kontakt zu dem Vorgesetzten der Polizistin Michèle Kiesewetter hatte, die im April 2007 in Heilbronn mit einem gezielten Kopfschuss von den Mitgliedern des NSU ermordet worden war.
Quelle: ntv.de, ppo/AFP