Interview mit Norbert Blüm "Merkel fehlt die große Idee"
16.07.2014, 08:13 Uhr
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Norbert Blüm hat "eine geheime Schadenfreude", dass all jene, die Angela Merkel unterschätzt haben, jetzt "die Gelackmeierten sind". An der Kanzlerin schätzt er Sachlichkeit und Verlässlichkeit. Aber er hat auch eine Bitte an sie.
n-tv.de: Herr Blüm, vor 14 Jahren, kurz bevor Angela Merkel zum ersten Mal zur CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, haben Sie dem "Spiegel" gesagt: "Was mir bei der Merkel gefällt, ist eine Sprache, die nicht so politisch abgelutscht ist wie meine. Sie bringt in diese perfekte Politwelt gelegentlich ein Stück von natürlicher Unbeholfenheit ein."

Norbert Blüm, Jahrgang 1935, war von 1982 bis 1998 Arbeits- und Sozialminister. Ab 1990 saßen er und Angela Merkel zusammen im Bundeskabinett.
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Norbert Blüm: Dabei bleibe ich. Ihre Sprache ist frei von Pathos, ihr Denken ist ideologieresistent und ihre Politik ist faktenorientiert. In einer Welt, die von Ideologien überschwemmt wird, finde ich das sehr hilfreich, und in ihrer Sachlichkeit liegt viel Unabhängigkeit. Aber ich hatte einen alten Lehrer, der sagte: Jedermanns Stärke ist auch seine Schwäche.
Was sind Merkels Schwächen?
Ihre Ideologieresistenz sperrt auch Ideen aus, ihre Sprache erwärmt die Herzen nicht und ihr fehlt das Appellative, die Fähigkeit, Menschen aufzurufen, über alle Ängstlichkeit hinweg ein großes Ziel zu verfolgen. Das schränkt ihren politischen Spielraum ein.
An welche großen Ziele denken Sie?
Vor allem an Europa. Das Europa, das wir wollen, können Sie nicht allein mit Sachargumenten erreichen. Das sind Ideen wie die Würde und Unabhängigkeit des Menschen, Ideen wie die Freiheit. Jene, für die Europa die Antwort auf tausend Jahre Hitler war, hatten weniger wirtschaftliche Gründe. Die hatten erfahren, dass die Nationalstaaten zwei Weltkriege zustande gebracht hatten. Daraus zogen sie die Schlussfolgerung: Wir brauchen ein Europa ohne Grenzen, ohne nationalstaatlichen Überschwang. Und mittlerweile hampeln wir schon wieder zwischen Nationalstaaten und Europa herum.
Was stört Sie an Merkels Europapolitik?
Europa darf man nicht den Stammtischen, den Finanzwissenschaftlern und den Geldwechslern überlassen. Wir brauchen in Europa keine nationalstaatlichen Grenzen mehr. Der Nationalstaat ist eine historische Zwischenstation, er ist bestenfalls zweihundert Jahre alt, er hat neben positiven Seiten, den Freiheitsbewegungen etwa, Schreckliches über die Welt gebracht: Kriege, Unterdrückung, Kolonialismus. Wir brauchen keine Nationalstaaten mehr! Wir brauchen Europa und, als Gegengewicht: Familie, Heimat, regionale Identität. Zwischen der Rückkehr zum Nahen und dem Ausflug ins Weite wird der Nationalstaat verschwinden. Ich bewundere Frau Merkel dafür, dass sie nicht das wichtigtuerische Gehabe der meisten Politiker übernommen hat. Aber ihr fehlt die große Idee. Wir brauchen Visionen! Nicht wie Helmut Schmidt gesagt hat, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Nein: Wer keine Visionen hat, der muss in die politische Reha.
Wie ist Angela Merkel eigentlich so mächtig geworden?
Ganz einfach: Sie ist von den wichtigtuenden Männern unterschätzt worden. Das ist die Rache der Emanzipation an der Überheblichkeit der Männer.
Viel Mitleid scheinen Sie mit den Männern nicht zu haben.
Ich habe sogar eine geheime Schadenfreude, dass die, die Frau Merkel unterschätzt haben, die Gelackmeierten sind. Die haben gemeint, sie könnten "das Mädchen" übersehen und übergehen, sie sei nur eine unterhaltsame Zwischenstation.
War Ihnen klar, dass Merkel eine so große Zukunft haben würde, als sie im Jahr 2000 Parteivorsitzende wurde?
Nein. Aber dass die Demokratie diesen Aufstieg ermöglicht hat, das gefällt mir. Eine Frau, aus dem Osten, ohne starke Hausmacht, ohne die Unterstützung von Lobbyisten und Interessengruppen. Sie ist nicht das Produkt von BDA, BDI oder DGB. Sie ist das Ergebnis politischer Selbsthilfe. Das finde ich gut.
Wann war der Punkt, an dem Merkel sich gesagt hat: Ich will mehr als nur Ministerin sein.
Ich glaube, das wusste sie schon sehr früh. Sie ist durchaus machtbewusst. Aber in kluger Bescheidenheit hat sie im berühmten Frühstück von Wolfratshausen dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur 2002 gelassen - so wie Helmut Kohl 1980 Franz Josef Strauß den Vortritt gelassen hat. Ein kluger Schachzug: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Das Spiel hätte auch anders ausgehen könnten, Stoiber hätte Kanzler werden können. Hätte Merkel sich dann zurückgezogen und geschmollt?
Das glaube ich nicht, aber Bundeskanzlerin wäre sie nicht mehr geworden.
Wie gefällt Ihnen, was Frau Merkel aus der CDU gemacht hat?
Auch hier ist ihre Stärke ihre Schwäche: Sie versammelt die CDU nicht um Ideen herum. Die CDU darf ihre Parteireform nicht nur danach ausrichten, wie sie bunter, weiblicher und jünger wird - das sind nur Marketingsprüche. Wir müssen uns überlegen: Warum machen wir eigentlich Politik? Eine Diskussion über Ziele halte ich für wichtiger als die Diskussion über Mittel.
Frau Merkel wird immer wieder unterstellt, sie habe den konservativen Markenkern der CDU aufgegeben.
Da müssten wir mal definieren, was konservativ ist. Sachen zu erhalten, kann auch sehr links sein. Zum Beispiel die Ehe zu erhalten, das ist nach meinem Weltbild links.
Was ist daran links?
Die Ehe ist ein Bollwerk gegen die Verwirtschaftung der Gesellschaft. Hinter dem Ehegattensplitting steht zum Beispiel die Idee, dass in der Ehe erwirtschaftetes Einkommen vergemeinschaftetes Einkommen ist. Wenn wir das Ehegattensplitting auflösen, dann sind die Ehepartner nur noch Aktionäre, die ihre Anteile einbringen, aber auch wieder abziehen können. In meiner Ehe hatte ich nie die Vorstellung, dass ich allein das Geld verdiene. Meine Frau hat es mitverdient. Meine Mutter hat nie gedacht, dass das Einkommen meines Vaters nur ihm gehört; das haben sie zusammen verdient. Damals wurde noch in der Kategorie des "Wir" gedacht. Ausgerechnet die Linken liefern die letzte antikapitalistische Bastion an den Kapitalismus aus. Also sind die eigentlich rechts.
Was sagt das über die Familienpolitik der CDU?
Ich glaube, dass sie den Artikel 6 des Grundgesetzes, den Schutz von Ehe und Familie, vernachlässigt. Wenn es nur noch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, dann ordnen wir die Ehe der Erwerbsgesellschaft unter. Eine geschiedene Mutter mit Kind wird verpflichtet, ebenso erwerbstätig zu sein wie der Vater ohne Kind. Erziehungsarbeit wird nicht als Arbeit gewertet. Dahinter steckt ein urkapitalistischer Gedanke: Arbeit hat nur einen Wert, wenn sie bezahlt wird.
Die Familienpolitik der CDU geht ja auch auf Merkel zurück ...
Das wollen wir mal nicht alles der armen Frau Merkel zurechnen, die CDU besteht ja nicht nur aus Frau Merkel. Das Scheidungsrecht haben wir schon vor Frau Merkel aufgeweicht. Da hat die CDU im Modernisierungswahn ihre Erbstücke vernachlässigt. In der Gesellschaft gibt es eine große Sehnsucht nach Stabilität und Geborgenheit. Diese Marktlücke hat die CDU derzeit nicht besetzt.
Die großen Bundeskanzler sind alle mit einem Thema verbunden. Bei Adenauer ist es die Westbindung, bei Brandt die Ostpolitik, bei Kohl Europa und die Wiedervereinigung. Was könnte die Überschrift über Merkels Kanzlerschaft werden?
Sie bringt Verlässlichkeit in eine aufgeregte Zeit. Aber noch fehlt der große Sprung - darüber reden wir erst, wenn die Epoche vorbei ist. Ihr Meisterstück wird sie leisten müssen in der Frage, ob sie dieses Europa einen Schritt weiterbringt oder ob Europa eine Tarifverhandlung zwischen 28 Staatschefs bleibt. Wenn Europa darin besteht, dass die Staatschefs sich nach den Verhandlungen immer fragen, wie "die Märkte" auf ihre Beschlüsse reagieren, dann können wir die Sache vergessen. Ein "Markteuropa" erwärmt die Herzen nicht.
Trauen Sie Merkel dieses Meisterstück zu?
Das traue ich ihr zu. Dazu gehören aber Ideen. Also, liebe Angela Merkel: Nimm die Fahne Europas in die Hand! Und geh mit dieser Fahne unter oder siege! Dann hast du das große Verdienst, sachliche Politik und ideale Ziele zu verknüpfen. Das wünsche ich Angela Merkel: Dass ihr Name mit einer neuen europäischen Epoche verbunden sein wird.
Mit Norbert Blüm sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de