Ortskräfte auf sich gestellt Safe Houses in Kabul "nur noch Todesfallen"
16.08.2021, 22:33 Uhr
Der Uniformierte zur rechten Seite ist eine Ortskraft: Er hilft dem Bundeswehrsoldaten links als Dolmetscher im Gespräch mit einem Afghanen nahe Kundus.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Taliban patrouillieren in Kabul. Sie sollen auch in Häuser eindringen und diese durchsuchen. Afghanische Ortskräfte haben bisher in deutschen Sammelunterkünften ausgeharrt. Diese wurden mittlerweile wegen der drohenden Gefahr aufgelöst.
In Kabul haben rund 350 Ortskräfte ihre von einer deutschen gemeinnützigen Organisation organisierten Sammelunterkünfte verlassen. Das teilte ein ehemaliger Übersetzer der Bundeswehr in Masar-i-Scharif mit. Demnach haben die Ortskräfte eine Anordnung bekommen, ihre drei "Safe Houses" zu verlassen, sagte der ehemalige Sprachmittler.
Der Übersetzer sagte, sie seien gegen Montagmittag (Ortszeit) aus den Häusern ausgezogen. Es habe Informationen gegeben, dass die Taliban, die im Zuge ihrer faktischen Machtübernahme nach und nach in der Hauptstadt Kabul Positionen und Behörden einnahmen, Häuser durchsuchten. Deswegen habe der Verwalter des "Safe Houses" gebeten, die Unterkunft so schnell wie möglich zu verlassen. Nun würden die rund 350 Menschen alle einzeln in Kabul wohnen.
Der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Afghanischer Ortskräfte, Marcus Grotian, teilte auf seiner Facebook-Seite die Auflösung der sicheren Unterkünfte mit. "Ich habe die Safe Houses aufgelöst, die nur noch Todesfallen sind." Grotian, ein Hauptmann der Bundeswehr, der sich für afghanische Ortskräfte einsetzt, hatte in der Vergangenheit immer wieder die Bundesregierung für ihren Umgang mit ihren einheimischen Helfern in Afghanistan kritisiert. Diese würden unter anderem zu langsam aus dem Land geholt.
"Wie wir dafür kritisiert wurden, auch dienstlich"
Auf Facebook schreibt Grotian nun mit ironisch-kritischem Ton: "Wir erinnern uns an logistische Unterstützung, große Verantwortung, Ansprechstellen der ehemaligen Arbeitgeber die stets ansprechbar seien, IOM-Büros [Internationale Organisation für Migration, Anm. d. Red.] die man, wenn auch nicht real, ja per Email erreichen konnte, und so wunderbare Visaprozesse, die alle liefen, so dass nicht ein einziges Visum von den später antragsberechtigten Ortskräften auch nur angefangen wurde. Wie wir dafür kritisiert wurden, auch dienstlich, dass wir auf Missstände und Lügen hingewiesen haben. Wir werden uns erinnern."
Der "Tagesschau" hatte Grotian den Fall des Dolmetschers Achmat Sultani geschildert, um besonders deutsches Versagen zu unterstreichen. Sultani habe für die Bundeswehr und Deutschland zehn Jahre gearbeitet und in der Zwischenzeit auch mal für die Niederlande. "Der ist mittlerweile in Amsterdam gelandet, mit einem bezahlten Flug", berichtete Grotian. "Das ist also ein Beispiel, wie Ortskräfte in anderen Ländern ihre Dankbarkeit ausgezahlt bekommen, indem sie in Sicherheit gebracht werden."
Bundeskanzlerin Merkel betonte inzwischen, dass ein Großteil der afghanischen Ortskräfte, die mit Bundeswehr und Bundespolizei zusammengearbeitet haben, bereits nach Deutschland oder in sichere Drittländer gereist seien - etwa 1900 Personen. Insgesamt umfasst die Anzahl dieser afghanischen Ortskräften inklusiver ihrer Familien laut Merkel 2500 Personen. Daneben gebe es etwas über 1000 Personen, die mit GIZ und KfW zusammengearbeitet haben, sowie Ortskräfte der Welthungerhilfe oder anderen in Afghanistan aktiven NGOs.
Zuvor hatten die Kanzlerin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer betont, man werde sich bemühen, so viele Menschen wie möglich aus dem Land auszufliegen. Sowohl die Kanzlerin als auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sowie die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sprachen von der Notwendigkeit, mehr als 10.000 Menschen aus der afghanischen Hauptstadt auszufliegen, denen Repressalien durch die Taliban drohen. Dazu sollen auch Politikerinnen, Menschenrechtler oder afghanische Journalisten zählen.
Am Montag startete die Bundeswehr mit Evakuierungsflugzeugen, die neben den Botschaftsmitarbeitern auch andere deutsche Staatsbürger sowie Ortskräfte, die für Bundeswehr oder Bundesministerien in Afghanistan gearbeitet haben oder noch arbeiten, nach Deutschland bringen sollen. Zunächst konnte wegen des Chaos auf dem Rollfeld aber keine Maschine in Kabul landen.
Quelle: ntv.de, mpe/dpa