Einblick in Haftbedingungen So leben russische Kriegsgefangene in der Ukraine
29.09.2023, 14:59 Uhr Artikel anhören
Nach Angaben der ukrainischen Behörden gab es bisher 48 Gefangenenaustausche.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Der Krieg in der Ukraine fordert nicht nur viele Todesopfer auf beiden Seiten, sondern regelmäßig werden Soldaten auch gefangen genommen. In Russland sollen Ukrainer misshandelt werden, während sich die Ukrainer darum bemühen, ein Bild von anständigen Haftbedingungen zu vermitteln.
Im Gänsemarsch, die Augen gesenkt, marschieren die Kriegsgefangenen in ihrer Arbeitskleidung und in Stiefeln in Richtung Kantine zum Mittagessen. Es gibt Erbsensuppe, Buchweizenbrei, Rote-Bete-Salat mit Brot. Plötzlich stehen alle auf und rufen gleichzeitig auf Ukrainisch: "Danke für das Essen!" Die Nachrichtenagentur AFP konnte ein Kriegsgefangenenlager besuchen, das im vergangenen Jahr im Westen der Ukraine eingerichtet wurde.
Die ukrainische Führung will zeigen, dass russische Kriegsgefangene anständig behandelt werden - im Gegensatz zu ukrainischen Gefangenen, die nach Angaben aus Kiew und von westlichen Menschenrechtsorganisationen in russischen Lagern misshandelt werden. Der Sprecher der für Kriegsgefangene zuständigen ukrainischen Behörde, Petro Jazenko, sagt nicht, wie viele Gefangene in der Einrichtung festgehalten werden. Aber ein Angestellter berichtet, dass das Essen in drei Schichten serviert wird in einem Saal, der 120 Menschen fasst.
Die Russen im Alter zwischen 19 und 58 Jahren warten auf ihren Austausch gegen ukrainische Kriegsgefangene. Seit Beginn des Krieges kehrten 2598 gefangene Ukrainer zurück, nach Angaben der ukrainischen Behörden gab es 48 Gefangenenaustausche. Zuletzt fand im August ein Austausch statt, bei dem aber nur wenige Soldaten zurückkehrten. Jazenko zufolge hatte Moskau die Verhandlungen abgebrochen.
"Sie wollen sie nicht zurück"
Einer der russischen Gefangenen erzählt, er sei schon seit mehr als einem Jahr in dem Lager. "Es ist seltsam. Die Russen sind hier, und sie wollen sie nicht zurück", sagt Jazenko. Im Lager gibt es eine orthodoxe Kapelle und einen Gebetsraum für die 15 muslimischen Gefangenen. Die Betten im Schlafsaal sind mit Foto, Namen und Geburtsdatum versehen.
Im Lazarett werden verletzte Gefangene behandelt. Einer von ihnen ist durch einen Granatsplitter entstellt und kann kaum sprechen. "Ich kann nicht essen", sagt der 46-Jährige, die Schultern gebeugt. Er kommt aus Brjansk nahe der ukrainischen Grenze und hat nach eigenen Angaben nur zwei Wochen gekämpft, bevor er vor fast vier Monaten ins Lager kam.
Während des Besuchs werden den Journalisten Räume mit Fernsehern und Kühlboxen gezeigt. Die Insassen dürfen telefonieren, aber bei ihren Gesprächen wird mitgehört. Ein Laden verkauft Süßigkeiten, Zigaretten und Cola. In der Bücherei können die Gefangenen Bücher auf Russisch ausleihen - von Dan Brown bis Dostojewski. Jeder Insasse koste den Staat pro Monat etwa 250 Euro. "Wir bieten ihnen zwar keine Abendgarderobe", sagt Jazenko, aber jeder habe seine eigene Seife, Zahnbürste und Rasierer. Wer suizidgefährdet sei, erhalte psychologische Unterstützung. Nach Ansicht Jazenkos haben die Gefangenen "keinen Grund zu fliehen", sondern eher "Angst vor der Außenwelt" in der Ukraine. Sie wollten nur nach Hause zurück.
"Nicht als Touristen in unser Land gekommen"
Jazenko ermuntert die Journalisten, mit ausgewählten Gefangenen zu sprechen, die dazu bereit seien. Ein Insasse aus Tschukotka, ganz im Nordosten Russlands, hat vor dem Krieg Rentiere gezüchtet und als Fischer gearbeitet. Er erzählt, dass er vor seiner Gefangennahme im Juli nur zwei Monate gekämpft hat. Die Lebenserwartung an der Front sei nicht hoch, sagt er: "Die misst man in Stunden."
Er berichtet von der Routine im Lager, die für alle Insassen die gleiche ist: 6 Uhr Aufstehen, 6.50 Uhr Frühstück, 8.30 bis 16.30 Uhr Arbeit in Werkstätten, 22 Uhr Bettruhe. Jeden Tag gibt es eine Gedenkminute für die ukrainischen Gefallenen, an der sich die Gefangenen beteiligen müssen. "Sie sind nicht als Touristen in unser Land gekommen", sagt Jazenko. "Sie sollen wissen, worauf sie sich eingelassen haben, und das nicht vergessen."
Quelle: ntv.de, Anna Malpas, AFP