US-Journalist zu knapper Wahl "Die könnten auch Micky Maus aufstellen"
04.11.2020, 14:55 Uhr
Die Stimmen sind zwar noch nicht ausgezählt, aber der US-Präsident droht bereits vor Gericht zu ziehen.
(Foto: imago images/AFLO)
Noch ist in den USA alles offen. Doch Präsident Trump untergräbt das demokratische System und provoziert einen Konflikt. US-Journalist Erik Kirschbaum schaut mit Sorge auf das enge Rennen ums Weiße Haus.
ntv.de: Es war eine lange und spannende Wahlnacht ohne klare Entscheidung. Ist das enge Kopf-an-Kopf-Rennen eine Überraschung für Sie?
Erik Kirschbaum: Es ist ein bisschen überraschend, dass Trump alles gewonnen hat, was er gewinnen musste. Aber auf der anderen Seite haben auch viele Demoskopen vorausgesagt, dass es knapp wird und auf die Auszählung der Briefwähler ankommt. Michigan, Wisconsin und Pennsylvania hatten jeweils ungefähr zwei Millionen Briefwähler, und die Stimmen werden noch ausgezählt. Deswegen kann es noch viel Bewegung geben. Es bleibt also erstmal spannend, und es kann leider noch einige Tage spannend bleiben.
Trump konnte viele Bundesstaaten verteidigen, vor allem wichtige und umkämpfte Staaten wie Florida. Bestätigen diese Siege seinen politischen Kurs?
Das bestätigt in erster Linie, dass Trump das Land total polarisiert hat, und dass er eine starke Basis hat. Knapp 44 Prozent der Amerikaner stehen voll hinter ihm. Diese Leute hat er die letzten vier Jahre angesprochen, ohne zu versuchen, neue Wählergruppen zu erschließen. Er hat alles gemacht, um diese 44 Prozent bei der Stange zu halten. Damit konnte er die wichtigen "Swing States" gewinnen.
Trump konnte wieder mal in den Südstaaten und im mittleren Westen punkten. Warum ist es für Demokraten dort so schwer?
Er ist einfach sehr populär in vielen dieser Bundesstaaten. Es gibt in den USA schätzungsweise 15 bis 20 Prozent, die immer republikanisch wählen, weil die Republikaner nie auf die Idee kommen würden, die Waffengesetze zu ändern. Viele dieser Wähler leben in den Südstaaten und im Mittleren Westen. Für sie ist es sehr wichtig, ihr verfassungsmäßiges Recht auf Schusswaffen zu verteidigen. Damit hat Trump schon bis zu 20 Prozent sicher. Dazu kommen nochmal 15 bis 20 Prozent an Evangelikalen und weitere strenggläubige Christen, die noch immer entsetzt sind, dass der Supreme Court in den 1970er-Jahren die Abtreibung legalisiert hat. Das will diese Wählergruppe rückgängig machen, sie wählen daher immer den republikanischen Kandidaten, egal wer das ist. Die Republikaner könnten auch Micky Maus aufstellen, und sie würden ihn wählen.
Haben die Demokraten in diesen Staaten gar keine Chance?
Texas war dieses Mal knapp. Zum ersten Mal seit 1976 haben die Demokraten lange daran geglaubt, dort zu gewinnen, und sie waren von einem Sieg nicht weit entfernt. Texas war immer klar republikanisch, aber wird jetzt wohl immer mehr zum "Battleground State". Biden konnte zwar in einigen der Südstaaten punkten, aber nicht genug. Er hätte in ein bis zwei Südstaaten einen Durchbruch gebraucht, dann wäre es jetzt nicht so eng für ihn. Jetzt steht Biden mit dem Rücken zur Wand und muss unbedingt Pennsylvania gewinnen. Ohne die 20 Wahlmänner dort ist es für ihn schwierig bis unmöglich, die Wahl zu gewinnen. Dazu muss er noch Wisconsin und Michigan gewinnen. Diese drei Staaten gingen vor vier Jahren knapp an Trump.
Es ist schnell das eingetreten, was viele befürchteten: Trump erklärte sich - ohne wirkliche Begründung - früh zum Sieger. Was bezweckt er damit?
Er will einen Konflikt aufbauen und seinen Anhängern damit eine Botschaft schicken. Aber es stimmt, es war das Horrorszenario, das keiner wollte. Trump erklärte sich vor den Auszählungen der Briefwähler schnell zum Sieger, um dann weiter von Wahlbetrug sprechen zu können. Das ist deprimierend.
Er kündigte an, beim Supreme Court einen Antrag zu stellen, um die Stimmenauszählung zu stoppen. Wie realistisch ist das?
Da kommt ein starkes Déjà-vu-Gefühl auf. Im Jahr 2000 musste der Oberste Gerichtshof ja schon mal eine wichtige Entscheidung über die Präsidentschaftswahl treffen. Die Richter haben damals knapp mit einer Fünf-zu-vier-Abstimmung gegen eine Neuauszählung in Florida gestimmt. So wurde George W. Bush zum Präsidenten.
Könnte Trump damit Erfolg haben?
Der Supreme Court würde sich erst in letzter Instanz einschalten. Trump hat ja bereits vor der Wahl mit einem Gerichtsverfahren gedroht. Aber einige Gerichte haben schon vor der Wahl angekündigt, dass definitiv alle gültigen Stimmen gezählt werden müssen. Jetzt kann man nur hoffen, dass auch wirklich alle Stimmen gezählt werden. Denn so funktioniert Demokratie.
Mit seinen Aussagen untergräbt Trump doch aber diese Demokratie und stiftet Chaos. Schlittern die USA in eine Verfassungskrise?
Im Extremfall schon. Aber ich bin optimistisch, dass es nicht zu einer Verfassungskrise kommt. Beide Lager wussten schon vorher, dass es eng werden könnte - vor allem durch die Briefwähler. Daher bin ich mir sicher, dass die Juristen auf beiden Seiten gut vorbereitet sind.
Auf den Straßen der USA ist die Wahlnacht soweit friedlich verlaufen. Was wird in den nächsten Tagen auf die Menschen in der USA zukommen?
Ich denke, es bleibt friedlich. Die Angst vor Gewalt war ein bisschen übertrieben, kein Mensch will Unruhen oder Gewalt. Daher bin ich mir sicher, dass es ruhig bleiben wird.
Das Land ist aber schon stark polarisiert und sehr gespalten. Verschlimmert der knappe Wahlausgang diese Situation?
Wahrscheinlich schon. Da es kein klares Ergebnis geben wird, bleibt die Stimmung polarisiert. Biden wollte das zwar ändern und das Land vereinen, aber Trump lebt ja von der Spaltung. Es ist daher zu befürchten, dass die USA durch das knappe Ergebnis weiter gespalten bleiben.
Trump ist vor der Wahl durch schlechtes Corona-Management aufgefallen und hat sich nie klar von rechten Gruppierungen distanziert. Und trotzdem schneidet er jetzt so gut ab. Wie kann das sein?
Er hat vor allem den Bonus des Amtsinhabers. Jimmy Carter war 1980 der letzte Präsident, der nach einer Amtszeit nicht wiedergewählt wurde. Aber man muss auch zugeben, dass Trump irgendwie charismatisch ist und er viele seiner Versprechungen gehalten hat. Er hat amerikanische Soldaten aus dem Krieg nach Hause gebracht und hat keine Kriege angezettelt - anders als seine Vorgänger. Er hat klare Kante gegen China bewiesen. Man spürt, dass er für die Industrie und die Menschen in den industrieabhängigen Gebieten kämpft. Die Leute lieben ihn dafür. Das ist manchmal unerklärlich, weil er ja auch die Krankenversicherung "Obamacare" abbauen will. Das ist eigentlich gegen das Interesse dieser Leute und trotzdem wählen sie ihn. Das werde ich nie verstehen - aber so ist das mit Trump.
Mit Erik Kirschbaum sprach Daniel Heyd
Quelle: ntv.de