Das Jahr des Christian Lindner Vom Hoffnungsträger zum Prügelknaben
30.12.2017, 09:40 Uhr
Endlich keine Apo mehr: Lindner am Tag nach der Bundestagswahl.
(Foto: imago/photothek)
Monatelang geht es in diesem Jahr nur bergauf für FDP-Chef Lindner. Wahlsieg folgt auf Wahlsieg. Dann kommt jene legendäre Nacht, in der er Jamaika platzen lässt. Es ist ein riskantes Unterfangen und wird Lindner wohl noch lange verfolgen.
Am 19. Oktober tritt Christian Lindner mit offenem Hemd vor die Bundespressekonferenz. In wenigen Stunden sondieren Union und Grüne, doch für diesen Termin nimmt sich der FDP-Chef noch Zeit. Rund eine Stunde lang stellt er sein Buch "Schattenjahre" vor, auf dem Cover prangt das typische Schwarz-Weiß-Dreitagebart-Lindner-Bild. Am Ende fragt ein Journalist nach: Wann es denn das Buch "Lichtjahre" gebe? Lindner winkt ab, und er tut gut daran. Denn inzwischen liegen die Lichtjahre in weiter Ferne. Die Lichtgestalt Lindner ist für viele zum Buhmann 2017 geworden.
Dabei hat Christian Lindner in diesem Jahr Erstaunliches geleistet. Ununterbrochen war er im Einsatz, er redete und kämpfte, tourte und entertainte in Talkshows, Bierzelten und Kneipen. Und er hatte Erfolg. Seiner Partei strömten die Neumitglieder nur so zu, unter ihnen viele junge Menschen, die nichts mit der klassischen FDP-Klientel gemein haben. In den drei Landtagswahlen im Frühjahr legten die Liberalen zu. In Nordrhein-Westfalen stellen sie inzwischen eine Regierung gemeinsam mit der Union, in Schleswig-Holstein sind sie an einer Jamaika-Koalition beteiligt. Und dann folgte Lindners Meisterstück im September: Mit 10,7 Prozent führte er die einstigen Schmuddelkinder zurück in den Bundestag.
Schon in der Stunde des Triumphs allerdings deutete sich das kommende Dilemma an. Als SPD-Chef Martin Schulz kurz nach Schließung der Wahllokale die Zusammenarbeit mit der Union für beendet erklärte, stießen einige FDP-Mitglieder in der Berliner Parteizentrale einen Seufzer aus. Eine "riesige Herausforderung" sei das, stöhnte so mancher bei der Wahlparty, jetzt müsse Personal herangekarrt werden. Denn mit Schulz' Rückzug blieb rein rechnerisch nur eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen übrig, wenn es nicht zu einer Minderheitsregierung oder Neuwahlen kommen sollte. Die FDP musste ran.
Doch für die Liberalen war und ist die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung - und dann noch in einer Jamaika-Konstellation - alles andere als attraktiv. Schließlich harrten sie im Bund vier Jahre in der außerparlamentarischen Opposition aus. Viele neugewählte Abgeordnete haben keine parlamentarische Erfahrung. Sie müssen sich erstmal im Regierungsviertel zurechtfinden und die Finessen des politischen Alltags lernen. Während sich die anderen Parteien schon seit Monaten im Parlament auf mögliche Koalitionsgespräche vorbereiten könnten, hätten die Liberalen einen strategischen Nachteil, beklagte FDP-Präsidiumsmitglied Frank Sitta im Gespräch mit n-tv.de schon vor der Wahl.
Das Merkel-Trauma sitzt tief
Auch Lindner sagte immer wieder: Es gehe ihm nicht um Dienstwagenschlüssel. Kaum etwas fürchtet die FDP mehr, als wieder als machtversessene Umfallerpartei gebrandmarkt zu werden. Lieber konsolidiert sie sich erstmal in der Opposition. Und dann ist da noch das Merkel-Trauma. Viele in der FDP lasten der Kanzlerin ihren Untergang nach der letzten schwarz-gelben Koalition 2009 bis 2013 an. Angeblich ließ ihnen die CDU-Chefin keine Luft zum Atmen, so die Klage. Lindner lässt kaum eine Gelegenheit aus, um Merkel, die er auch schon einmal als "Sedativum" beschrieb, zu kritisieren. Noch zu Beginn der Sondierungen sagte Lindner dem "Stern": "Ich erwarte, dass in der CDU in den nächsten vier Jahren eine Debatte über die Nachfolge von Angela Merkel eröffnet wird." Vielleicht kein optimaler Einstieg für gemeinsame Gespräche.
So mancher glaubt daher, dass Lindner Jamaika nie richtig gewollt habe. Dass er es in den Sondierungen absichtlich auf ein Scheitern anlegte, um dann gestärkt in Neuwahlen zu gehen. Doch wenn er sich einen solchen Popularitätsschub erhofft hatte, dann könnte er sich gewaltig verzockt haben. Denn sein Versuch, die FDP als prinzipienfeste Bastion des Liberalismus und der Mitte darzustellen, verfängt nur begrenzt. Als er sich am 19. November kurz vor Mitternacht der Presse stellte und jenen schon legendären Spruch "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" von sich gab, war die Reaktion wohl nicht, wie er erhofft hatte. Und trotz unzähliger Interviews und Erklärungsversuche gelingt es der FDP nicht, ihren Jamaika-Ausstieg plausibel zu erklären. Die weitverbreitete Legende lautet zurzeit: Die FDP hat's verbockt. Und die deutsche Sprache hat ein neues Verb: "lindnern".
Dabei dürfte besonders ein Punkt Lindner schmerzen: Ausgerechnet viele Wirtschaftsvertreter, die klassischen FDP-Wähler und Spender, zürnen ihm nun. Wie das "Handelsblatt" schrieb, sagte der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände BDA, Ingo Kramer, ungewohnt laut seinem Parteichef ins Gesicht, es sei "eine Schande", wie er sich verhalten und der Verantwortung entzogen habe. "Erst das Land, dann die Partei." Ähnlich äußerten sich andere Wirtschaftsvertreter im Gespräch mit n-tv.de. "Wer sich wählen lässt, muss auch regieren wollen", so Volker Schmidt vom Arbeitgeberverband Niedersachsenmetall. "Die Strategie der Bundes-FDP erschließt sich nach meinem Eindruck derzeit vielen Unternehmern nicht." Die FDP habe das Land "schlicht und ergreifend im Stich" gelassen.
Die Enttäuschung spiegelt sich auch in den Umfragen. Inzwischen liegt die FDP nur noch bei Werten um 8 Prozent, während die Grünen deutlich zulegen. Noch gravierender ist das Misstrauen, das den Liberalen entgegenschlägt. Gerade mal 13 Prozent der Befragten halten die FDP laut einer Forsa-Umfrage noch für glaubwürdig. Nur die AfD schneidet in diesem Punkt schlechter ab. Und ein Drittel der FDP-Wähler würde nun für eine andere Partei stimmen, die meisten für Union und Grüne. Auch der Parteichef ist inzwischen in seinen persönlichen Beliebtheitswerten abgeschmiert. Lediglich von einer Seite bekommt Lindner Zuspruch: Bei AfD-Wählern ist er inzwischen beliebter als AfD-Chef Alexander Gauland.
Baum: "Die FDP trägt jetzt eine Last mit sich"
Noch bleibt es in der FDP ruhig. Schließlich wissen alle nur zu gut, was sie ihrem Vorsitzenden zu verdanken haben. Und Lindner betont gerne, dass die Entscheidung zum Abbruch der Sondierungen gemeinsam getroffen worden sei. Doch zeigen sich erste Risse. "Die FDP trägt jetzt eine Last mit sich", sagte der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum kurz vor Weihnachten den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Er attestiert den Liberalen einen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust. "Sich einer Wahl zu stellen, heißt vor allem, zur Übernahme von Verantwortung bereit zu sein und auch unangenehme Kompromisse zu schließen", so Baum. "Ich hätte das gewagt."
Baum weist vor allem auf ein Problem hin, das Lindner künftig umtreiben dürfte: Die FDP muss mit dem Vorwurf leben, "dass jetzt Dinge passieren, die sie hätte verhindern können und Dinge nicht passieren, die sie in der Regierung hätte bewirken können". Auch für einen begnadeten Rhetoriker wie Lindner dürfte das im nächsten Jahr schwierig werden. Ebenso wie die Frage, die sich viele Wähler vielleicht künftig bei Neuwahlen stellen: Warum sollte man für eine Partei stimmen, die letzten Endes doch zu verzagt ist?
Im Interview mit n-tv.de wiegelt Lindner ab. Natürlich wolle die FDP regieren, sagt er: "Die FDP hat keine Scheu, in Koalitionen einzutreten, wenn die Konstellation ein faires Miteinander erlaubt, in dem jeder seinen Beitrag zu einem Erneuerungsprojekt für unser Land leisten kann."
Bis dahin kann die Zeit allerdings lang werden. Immerhin, falls Lindner irgendwann seine Entscheidung zum Jamaika-Abbruch doch bedauern sollte, so weiß er sich zu trösten. Auf die Frage, ob er etwas bereue, sagt er: "Ich möchte keine Situation der Vergangenheit zurückholen und ändern, weil das den Menschen und den Charakter ausmacht." Nicht zuletzt gibt das ja auch den besten Stoff zum Schreiben.
Quelle: ntv.de