Politik

Ankara und die Angst Warum die Türkei den IS schont

Erdogan vor der UN-Vollversammlung: "1,5 Millionen Flüchtlinge sind jetzt in meinem Land", sagte er. "Und wo bleibt die Unterstützung des Rests der Welt?"

Erdogan vor der UN-Vollversammlung: "1,5 Millionen Flüchtlinge sind jetzt in meinem Land", sagte er. "Und wo bleibt die Unterstützung des Rests der Welt?"

(Foto: REUTERS)

Die Türkei leidet unter dem gewaltigen Flüchtlingsstrom aus Syrien und dem Irak. Trotzdem geht das Land nicht beherzt gegen die Schlächter des Islamischen Staates vor. Ankara steckt in einer schwierigen Lage.

Es gibt dieses Sprichwort über Glashäuser und Steine. Auch Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Türkei, dürfte es kennen. Bei seinem Auftritt vor der UN-Vollversammlung Mitte der Woche hat er es aber geflissentlich ignoriert. Er warf der Weltgemeinschaft vor, im Nahen Osten versagt und damit den Aufstieg des Islamischen Staates (IS) erst ermöglicht zu haben. "1,5 Millionen Flüchtlinge sind jetzt in meinem Land", sagte er. "Und wo bleibt die Unterstützung des Rests der Welt?" Erdogan schmiss nicht nur Steine, er schmiss dicke Brocken. Dass ausgerechnet die Türkei als Transitland für die Dschihadisten gilt, weil der Grenzschutz lange gar nicht funktioniert hat, erwähnte er dagegen nicht. Auch, dass die Regierungspartei AKP die Dschihadisten lange nicht ernst genommen hat, und ihre Sympathisanten noch heute ungehindert auf Istanbuls Straßen demonstrieren können, verschwieg er.

Die Türkei nimmt tatsächlich mehr Flüchtlinge auf als alle anderen Staaten. Die Klagen darüber sind berechtigt. Doch zugleich konnte sich das Land anders als die USA oder Frankreich noch nicht zu einem militärischen Eingreifen durchringen, um die Fluchtursache zu beseitigen. Nicht einmal Waffen liefert die Türkei an die Gegner des IS. Ankara fehlt es offensichtlich an einer konsistenten Strategie, wenn es um das Engagement gegen die Schrecken des IS geht. Mit seinem forschen Auftritt vor der Vollversammlung wollte Erdogan vielleicht davon ablenken. Doch das musste schiefgehen. Dabei hätte es viele Gründe gegeben, die er zur Erklärung hätte aufführen können.

Lange hat die Türkei nichts gegen Islamisten in Syrien getan. Die Regierung in Ankara hoffte darauf, dass sie dabei helfen, Präsident Baschar al-Assad zu stürzen. Dass sie auch eine Gefahr für die gesamte Region, für den Rest der Welt werden könnten, hat die Türkei wie so viele andere Staaten nicht gesehen. Und wie viele andere Staaten muss sie nun schnell eine nachhaltige Strategie im Kampf gegen IS entwickeln - nur ist das für die Türkei deutlich schwieriger.

Der Wille ist da

Am Willen liegt es laut Oliver Ernst, dem Türkeiexperten der Konrad-Adenauer-Stiftung, nicht. "Die AKP tritt in der Außenpolitik traditionell für einen demokratischen und moderaten Wandel in der Region ein, der extremistische Gotteskrieger bedeutungslos machen soll", sagt Ernst. "Für die AKP und die breite AKP-Wählerschaft ist IS eine Terrororganisation, die keinen Zuspruch genießt, sondern für das extreme Anschwellen der Flüchtlingsströme verantwortlich gemacht wird. Wenn die türkische Regierung nun verstärkt auch militärisch gegen IS vorgehen will, dann hat sie dafür die Rückendeckung ihrer Wählerschaft."

Hinderlich für ein beherztes Vorgehen sind für Ankara andere Zwänge. Da ist zum Beispiel die Kurden-Frage: Milizen der verbotenen Arbeiterpartei PKK kämpfen zusammen mit irakischen Kurden gegen IS. Sie bekommen bereits Waffen vom Westen, und die Chancen, dass sie bei einem Sieg in der Region einen eigenen Staat gründen können, wachsen. "Ankara lehnt die Entstehung eines oder mehrerer Kurdenstaaten auf den Territorien des Iraks, Syriens, Irans oder der Türkei ab", sagt Ernst. "Zugleich kooperiert Ankara aber eng mit den moderaten irakischen Kurden." Laut Ernst machen die zunehmenden militärischen Aktivitäten der PKK der türkischen Regierung größte Sorgen. Denn sie will sich mit der PKK versöhnen und sie entwaffnen. "Ankara will in dieser Frage die Kontrolle behalten und insbesondere den Aktionsradius der verschiedenen Kurdenmilizen nicht größer werden lassen."

Die Angst ist groß

Laut Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik treibt Ankara zudem die Angst um, dass Syriens verhasster Präsident eines Tages doch Teil einer Allianz gegen IS wird. "Die Regierung will nicht, dass Assad wieder hoffähig wird und seine Macht konsolidiert."

Wie viele andere Staaten zweifelt die Türkei zudem an den Erfolgsaussichten einer militärischen Offensive. Denn es ist schlicht nicht klar, zu welchem Preis IS mit Waffen zu besiegen ist. Für die Türkei wären bei einem Scheitern die unmittelbaren Folgen schon allein wegen der geografischen Nähe wohl heftiger als für andere Staaten. "Die Türkei fürchtet, Ziel von IS-Terrorzellen zu werden", sagt Aydin. Und Ankara ist für die mordenden Islamisten schlicht leichter zu erreichen als Berlin.

Dass der halbherzige Kurs der türkischen Regierung gewisse Spielräume bietet, hat sich erst vor wenigen Tagen gezeigt. Bis zum vergangenen Samstag hatten die Dschihadisten noch mehr als 40 Türken als Geiseln. Durch einen "diplomatischen Handel" ist es Ankara gelungen, alle zu befreien. Amerikaner und Franzosen, die in die Hände des IS geraten sind, wurden geköpft.

Quelle: ntv.de

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