Politik

Ex-Soldat Jonas Kratzenberg Warum ein Deutscher für die Ukraine in den Krieg zog

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Der ehemalige Bundeswehrsoldat Jonas Kratzenberg ist als Freiwilliger in die Ukraine gegangen. "Ich wollte als Soldat an die Front", sagt er. Für ihn endet der Einsatz in der Nähe von Mykolajiw.

Manchmal könne er nicht einschlafen, sagt Jonas Kratzenberg. Die Eindrücke auf dem Schlachtfeld hätten sich eingebrannt. Dann rieche er erneut frisches Blut - ein Geruch, den er nicht aus der Nase bekommt. Dann höre er das Pfeifen und Rauschen von Granaten, von Artillerie. Besonders schlimm war es an Silvester, erzählt der 25-Jährige. Es sei nicht das laute Knallen der Böller gewesen. "Es war dieses Pfeifen, was eine Rakete macht, bevor sie im Himmel explodiert." Ein Pfeifen, das in Deutschland das neue Jahr einläutet. In der Ukraine kündigt es den Tod an.

Wenn der Mann aus der Nähe von Aachen von seinen Erlebnissen erzählt, geht sein Blick starr nach vorne. Blickkontakt hält er nur beim Smalltalk. Berichtet Jonas Kratzenberg vom Krieg in der Ukraine, wirkt er, als müsse er sich sehr konzentrieren, um sich das Erlebte ins Gedächtnis zu rufen.

Wir treffen Jonas Kratzenberg in Berlin. Vor der russischen Botschaft haben Menschen ein Mahnmal errichtet, eine ukrainische Flagge weht im Wind. Der Ort erinnert an die Kriegsverbrechen, an das, was russische Soldaten getan haben, seit sie im Februar 2022 ihr Nachbarland überfallen haben. Es war der Moment, als Kratzenberg klar wurde: Er will da hin.

"Ich wollte an die Front"

Kurz nach Kriegsbeginn packte Kratzenberg seine Sachen zusammen und fuhr mit dem Auto in Richtung Ukraine. Seinen Eltern sagte er fünf Minuten vorher Bescheid. Während sein Vater es schon immer gewusst habe, habe die Mutter versucht, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, sagt er. Sie stellt ihm eine naheliegende Frage: Warum will er für die Ukraine kämpfen? Es ist immerhin nicht sein Land, das überfallen wurde. "Es ist nicht mein Krieg, so wie es von den Menschen in der Ukraine der Krieg ist. Aber es ist ein Angriff auf Europa." Er wolle für ein Europa kämpfen, "in dem keine Angst vor russischer Aggression herrscht", sagt Kratzenberg.

Jonas Kratzenberg ist ehemaliger Bundeswehrsoldat. Nach dem Abitur schloss er sich der Truppe an, wurde Panzergrenadier. 2019 absolvierte er einen Auslandseinsatz, war in Afghanistan stationiert. Anschließend schlug er die Offizierslaufbahn ein, doch er brach ab. In seiner neuen Einheit sei er aus persönlichen Gründen nicht zurechtgekommen, erzählt der 25-Jährige. Zudem sieht er sich nicht als Soldat, der nur trainiert. "Ich wollte als Soldat an die Front. Genauso wie der Dachdecker aufs Dach und der Pilot ins Cockpit will, will ich in den Kampf." Mit dem Unterschied, dass der Dachdecker nicht sein Leben riskiert, wenn er das Dach von Familie Müller oder Meier in seiner Heimatstadt steckt. Kratzenberg zuckt nur mit den Schultern. Sterben könne man überall. Im Krieg sei das Risiko halt höher.

Spitzname "Kaiser"

Anfang 2022 trat er aus der Bundeswehr aus, wurde ehrenhaft entlassen. Kurz danach begann der Krieg, auch für ihn. Zu 65 Prozent sei er aus moralischen Gründen gegangen, um das überfallene Land gegen den Aggressor zu verteidigen. Die restlichen 35 Prozent seiner Motivation seien aus dem Willen entstanden, das in der Bundeswehr gelernte auch an der Front einzusetzen.

"Es ist vielleicht schwer nachvollziehbar. Aber gerade das Gefecht und das unter Feuer Stehen ist das, was mich so reizt. Vielleicht bin ich ein Adrenalinjunkie", sagt Kratzenberg. Über seine Zeit in der Ukraine erzählt er folgendes: Zuerst war er Teil der internationalen Legion, in der Freiwillige aus der ganzen Welt kämpfen. Einer dieser Kämpfer konnte Kratzenbergs Namen nicht aussprechen. Er gab ihm den Spitznamen "Kaiser" - in seinen Ohren klang das wohl ähnlich. Jeder in dieser Einheit hat einen Spitznamen, erzählt Kratzenberg. Anschließend wechselte er in eine Einheit der ukrainischen Armee.

Das Grauen von Butscha

Sein erster Einsatz führt Kratzenberg zu einem Ort des Grauens. Er war als einer der ersten in Butscha, sah die Kleinstadt in der Nähe von Kiew, nachdem die russische Armee abgezogen war. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen Kratzenberg den Blick starr nach vorne richtet, als er davon erzählt. Der Ort wurde zum Symbol für die Kriegsverbrechen der russischen Armee. "Da lag ein kleines Mädchen in einer pinken Jacke auf dem Boden. Einem Pärchen, Mann und Frau, hat man in den Kopf geschossen und sie auf den Bürgersteig abgelegt. Die Leichen waren ausgedörrt, die Haut war so dünn wie Pergament", beschreibt Kratzenberg das Gesehene.

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Erst nach und nach seien ihm und seinen Kameraden das Ausmaß der Kriegsverbrechen klargeworden. Wie ein grausames Puzzle habe sich ein Bild in seinem Kopf zusammengesetzt, als jeder zurück im Camp von seinen Eindrücken erzählte. Nach Kratzenberg besucht auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ort. Und mit ihm Journalisten, die Bilder aus Butscha gehen um die Welt. "Wie kann das sein? Wie können die Menschen das denen antun, die sie als ihr 'Brudervolk' bezeichnen?", ist Kratzenberg schockiert. All das werde er niemals vergessen.

Dann kam die Drohne

Bei einem Einsatz Ende 2022 wird Kratzenberg in der Nähe von Mykolajiw schwer verletzt. Seine Erinnerungen an diesen Moment sind erstaunlich klar. Als der Einsatz des Tages eigentlich schon vorüber ist, hört Kratzenberg ein monotones Summen über sich. "Drohne!", rufen die Kameraden. Das kleine Fluggerät wirft eine Granate über ihm ab, sie explodiert nur wenige Handbreit neben ihm. Splitter treffen den Soldaten in Arme, Beine und Kopf. "Ich erinnere mich an den Knall. Plötzlich werde ich herumgeschleudert. Vom Kopf floss mir das Blut ins Gesicht. Und trotzdem habe ich keinen Schmerz gespürt", erinnert sich Kratzenberg an den Moment. Besonders am Bein blutete er stark, ein Kamerad legte ihm eine Aderpresse an. Er wurde noch in der Ukraine operiert, eine Narbe am kahlgeschorenen Kopf ist stummer Zeuge des Moments, an dem sein Leben beinahe beendet worden wäre. Der Splitter im Kopf verfehlte das Gehirn. Wenige Zentimeter weiter hinten und er wäre zu einem der vielen Gefallenen des Krieges geworden.

Kratzenberg ist dem Tod entkommen. Es ist der Moment, wo für ihn der Krieg endet. Er habe nun zu viel zu verlieren.

Denn die Monate in der Ukraine bleiben ihm nicht nur wegen des Krieges in Erinnerung. Kratzenberg zog in den Krieg und fand die Liebe. In Kiew lernte er seine Freundin kennen, die beiden wohnen aktuell in Deutschland. Ihr zuliebe und aus Rücksicht auf seine Eltern wird er nicht erneut in den Krieg ziehen. Kratzenberg will jetzt ein Zivilist sein, momentan ist er auf der Suche nach einem Job. Einer, bei dem ein Pfeifen nicht den baldigen Tod ankündigt, sondern vielleicht einfach nur den fertigen Kaffee im Mokka-Kännchen auf dem Herd.

Und irgendwann will Jonas Kratzenberg in der Ukraine leben. Wenn dort Frieden herrscht.

Quelle: ntv.de

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