Politik

Brexit-Talk bei Anne Will Wer glaubt noch an Europa?

Wenig Neues, dafür eine emotionale Tiefe wie sonst selten: der Brexit-Talk bei Anne Will

Wenig Neues, dafür eine emotionale Tiefe wie sonst selten: der Brexit-Talk bei Anne Will

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Anne Will unterbricht die Sommerpause und lässt eine hochkarätig besetzte Runde über die Folgen des Brexits diskutieren. Eine emotional geführte Debatte und eine ungewohnt feurige Verteidigungsministerin belohnen fürs Einschalten.

Eigentlich hatte Anne Will sich Anfang Juni für längere Zeit von den sonntagabendlichen TV-Schirmen verabschiedet, weil im ARD-Programmplan zwischen Fußball-EM und Olympia wenig Zeit für tiefschürfenden Polittalk bleibt. Eigentlich deshalb, weil die Journalistin im selben Atemzug angekündigt hatte, bei "weltbewegenden Ereignissen selbstverständlich zur Stelle zu sein". Nun ist mit dem Brexit ein weltbewegendes Ereignis par excellence eingetreten - und Anne Will steht mit einer hochkarätig besetzten Talkrunde parat, um zumindest ein paar der vielen Fragen zu diskutieren, die das unerwartete Ergebnis des Referendums aufgeworfen hat.

Über die weitreichenden Konsequenzen des britischen EU-Austritts debattieren an diesem Abend die Tory-Abgeordnete und Brexit-Mitinitiatorin Anna Firth, der EU-Korrespondent der ARD Rolf-Dieter Krause, der slowakische Europaabgeordnete Richard Sulik, der ehemalige britische Botschafter Sir Peter Torry sowie Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

"Wir Briten haben doch nie wirklich dazugehört"

Auch ohne weitere Hintergrundinfos genügt ein kurzer Blick in die Runde, um auszumachen, wer wo steht: Der dauergrinsenden Firth ist anzusehen, dass sie gerade die Zeit ihres Lebens hat, während von der Leyen nicht nur bestürzt aus der Wäsche guckt, sondern ihre Bestürzung im Verlauf der Sendung auch mehrfach betont: "Was so schmerzhaft für uns ist, ist, dass wir anscheinend vergessen haben, was wir zusammen in Europa bewegt haben", sagt die Verteidigungsministerin und schüttelt den Kopf. Die britische Konservative ist da allerdings ganz anderer Meinung: "Die EU ist eine tolle Sache für die Staaten auf dem Festland. Aber mal ganz ehrlich: Wir Briten haben doch nie wirklich dazugehört, sondern standen lange in unserer Ecke und haben mit Steinen geworfen. Da muss man doch zwangsläufig irgendwann zu dem Schluss kommen, dass Europa ohne Großbritannien schlichtweg besser funktioniert. Ich bin also fest davon überzeugt, dass das britische Volk die richtige Wahl getroffen hat, für Großbritannien und Europa gleichermaßen."

Lieferten sich ein erhitztes Duell: Anna Firth und Ursula von der Leyen

Lieferten sich ein erhitztes Duell: Anna Firth und Ursula von der Leyen

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Für die falscheste aller Entscheidungen hält den Brexit dagegen der ehemalige britische Botschafter: "Ich bin sehr traurig für meine Kinder und Enkel, denen ihre Zukunft von verängstigten Menschen genommen wird, die glauben, mit einer Protestwahl aus dem sich immer schneller drehenden Globalisierungskarussell aussteigen zu können", sagt Peter Torry und schiebt mit einem freudlosen Lächeln hinterher, "dass genau diese Menschen die ersten sein werden, die feststellen, dass der EU-Austritt all ihre Sorgen und Nöte noch verschärft - welch bittere Ironie des Schicksals."

Das mögen nun alles keine bahnbrechenden Erkenntnisse sein - man vermisst sie aber auch nicht, weil die Diskussion eine emotionale Tiefe erreicht, die man in einem Polittalk sonst selten findet: Von der Leyen zeigt ihre Angst um den europäischen Traum genauso offen, wie Firth ihren Triumph feiert, während Rolf-Dieter Krause scheinbar noch nicht akzeptieren kann oder will, dass der Brexit tatsächlich Realität ist. "Ich werde das Gefühl nicht los, dass es anders kommen könnte und Großbritannien am Ende gar nicht aus der EU austritt", sagt der Brüssel-Korrespondent und setzt seine Hoffnungen in das nicht weisungsgebundene britische Parlament, das sich im äußersten Fall kurzerhand über das Ergebnis des Referendums hinwegsetzen könnte. Genau darauf hofft auch Torry: "Die Verhältnisse im Parlament sind klar: 80 Prozent sind gegen den Brexit."

"Nur gemeinsam sind wir stark"

Dass der britische Premier David Cameron erst im Oktober zurücktreten will und es seinem Nachfolger überlassen möchte, den für den EU-Ausstieg entscheidenden Artikel 50 zu ziehen, bestärkt genau wie die Verzögerungstaktik der Brexit-Gallionsfigur Boris Johnson Krauses und Torrys Hoffnungen, dass der EU-Austritt Großbritanniens sich zu guter Letzt doch nur als schlechter Traum entpuppen könnte - aus dem man schlussendlich zwar schweißgebadet, aber auch unendlich erleichtert aufwacht.

Selbst Brexit-Mitinitiatorin Firth muss eingestehen, dass es außer dem frommen Wunsch eines schnellstmöglichen Austritts keinen wirklichen Fahrplan für die kommenden Monate gibt - eine Aussage, bei der von der Leyen die Kinnlade herunterklappt: "Das erschüttert mich jetzt. Wenn Sie so eine Kampagne durchführen, müssen Sie doch auch einen Plan mitbringen, wie es weitergeht, wenn Sie gewonnen haben", ätzt die Verteidigungsministerin und erntet dafür heftigen Szenenapplaus. Dass es in der sonst so stocksteifen CDU-Politikerin an diesem Abend geradezu brodelt, steht ihr ausgesprochen gut: Mit Verve setzt sich von der Leyen für den europäischen Gedanken ein und findet zwischendurch sogar noch die Zeit, mit den reichlich merkwürdigen Ansichten des Slowaken Sulik aufzuräumen. Statt konstruktive Gesprächsbeiträge abzuliefern, lästert der Europaabgeordnete, der nicht allzuviel von Europa zu halten scheint, lieber über die Borniertheit der EU-Eliten. "Mein lieber Herr Sulik, wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie als Abgeordneter doch ein Teil ebenjener Elite, die Sie so verabscheuen. Anstatt hier über Ihre Kollegen herzuziehen, täten Sie also besser daran, an all den Missständen zu arbeiten, die es in der EU zweifelsohne gibt - Sie sitzen schließlich an der Quelle."

Irgendwann ist dann aber auch von der Leyens Zorn verraucht - und die Verteidigungsministerin verabschiedet sich mit einem beinahe versöhnlichen Schlusswort bei den Zuschauern: "Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie in einem Europa aufwachsen, das zusammensteht, um die globalen Herausforderungen zu meistern, die auf uns alle zukommen. Nur gemeinsam sind wir stark."

Quelle: ntv.de

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