Politik

Soldaten im Strahlungsgebiet Darum übt das ukrainische Militär in Tschernobyl

Ukrainische Soldaten sichern eine Straße in Prypjat.

Ukrainische Soldaten sichern eine Straße in Prypjat.

(Foto: picture alliance / Pacific Press)

Tschernobyl gilt als größte Katastrophe der zivilen Kernkraft. Die Atomruine liegt aber auch auf der kürzesten Route in die ukrainische Hauptstadt Kiew, falls russische Truppen aus Belarus einfallen sollten. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Ukraine dort Militärübungen abhält.

Russland bestreitet, dass es eine Invasion in die Ukraine plant. Aber die ukrainische Armee will sich auf alle Möglichkeiten vorbereiten und übt bereits den Häuserkampf - in Prypjat, der Geisterstadt, die nur wenige Kilometer von der Atomruine Tschernobyl entfernt liegt.

Dort feuern ukrainische Soldaten Anfang Februar treffsicher Mörser-Granaten ab, Scharfschützen nehmen hölzerne Ziele in den Fenstern der leerstehenden Plattenbauten ins Visier, Nationalgardisten sichern mit gepanzerten Fahrzeugen die Straßen, vermeintlich Verwundete werden von ihren Kameradinnen und Kameraden in Sicherheit gebracht - stolz präsentiert die ukrainische Armee in mehreren Videos ihre Fähigkeiten. Es sei die erste Militärübung in der Stadt seit dem Atomunglück von Tschernobyl gewesen, sagt das ukrainische Innenministerium.

"Es ist unser Gebiet, unser Land"

Am 27. April 1986 müssen die Bewohnerinnen und Bewohner von Prypjat die Stadt Hals über Kopf verlassen. Etwa 24 Stunden vorher ist wenige Kilometer entfernt Reaktor vier im Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert. Dann ordnet die sowjetische Führung in Moskau die Evakuierung der 48.000-Einwohner-Stadt an und errichtet eine etwa 30 Kilometer große Sperrzone um die strahlende Ruine. Hab und Gut lassen die Menschen damals zurück. Genauso wie ihre Haustiere, die später geschossen und vergraben werden.

Abfahrt aus der Sperrzone: In Prypjat und Umgebung lebt seit 33 Jahren niemand mehr.

Abfahrt aus der Sperrzone: In Prypjat und Umgebung lebt seit 33 Jahren niemand mehr.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Bis heute ist Prypjat verlassen, ein zeithistorisches Dokument wie aus einem Gruselfilm. Es gibt einen verlassenen Rummelplatz mit Riesenrad, verlassene Schulen und Kindergärten, in denen noch das Spielzeug der Kinder herumliegt, die in den 80er Jahren plötzlich flüchten mussten. Im Keller des örtlichen Krankenhauses verstaubt nach wie vor die Schutzkleidung der Feuerwehrleute, die ahnungslos nach Tschernobyl gefahren sind, um den Reaktorbrand zu löschen. Nun kämpfen plötzlich Soldaten in der Stadt.

"Es spielt keine Rolle, ob das Gebiet verseucht ist und niemand hier lebt", hat ein Oberstleutnant des ukrainischen Grenzschutzes der "New York Times" gesagt. "Es ist unser Gebiet, unser Land, und wir müssen es verteidigen. Solange sich die Soldaten nicht in zu stark verseuchten Gebieten aufhalten würden, bestehe keine Gefahr."

Grenznahe Touristenattraktion

Experten stimmen zu. "Aus radiologischer Sicht ist das nicht gefährlich", erklärt Sven Dokter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. "Die Strahlendosis, die man in Prypjat erhält, soll bei unter 0,005 Millisievert liegen. Das ist deutlich weniger als die Dosis, die man erhält, wenn man beim Zahnarzt geröntgt wird oder, wenn man mit dem Flugzeug von Deutschland in die Ukraine und zurück fliegt."

Auch Dokter hat Prypjat und Tschernobyl schon besucht, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen allerdings aus beruflichen Gründen. Zehntausende sind vor der Corona-Krise dagegen aus Neugierde ins Sperrgebiet gepilgert, um Bilder von der Geisterstadt und dem riesigen Sarkophag zu machen, der das Kernkraftwerk abdeckt - ganz legal, ukrainische Reiseveranstalter bieten solche Ausflüge an. Das sei gesundheitlich unbedenklich, wenn man sich an die Regeln hält, sagt Nuklearexperte Dokter.

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Derzeit gilt Tschernobyl aber nicht als Touristenattraktion, die ein wenig Geld in die ukrainische Staatskasse spült, sondern auch als mögliche Route für eine Invasion russischer Truppen. Es wäre sogar die schnellste Verbindung in die ukrainische Hauptstadt, falls russischen Truppen tatsächlich aus Belarus einmarschieren sollten. Kiew liegt nur knapp 70 Kilometer von der Sperrzone und etwas mehr als 80 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Und genau dort führt Russland aktuell ein riesiges Militärmanöver durch.

Invasion trotz Strahlen-Hotspots?

Für das Manöver hat Russland Tausende Soldaten und wichtige Waffensysteme nach Belarus verlegt, Flugabwehrraketen genauso wie Kampfjets. Was genau passiert, ist allerdings unklar. Aus Sorge hätten die baltischen Staaten im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verlangt, dass Belarus das offenlegt, erklärte Thomas Wiegold jüngst bei ntv. Die offizielle Ansage sei, dass diese Truppen am 20. Februar nach Russland zurückkehren. Das sollte man beobachten, betonte der Militärexperte und Journalist, denn das Gerät für einen solchen Angriff sei vor Ort.

Im gesamten ukrainischen Grenzgebiet sollen sich nach US-Angaben "deutlich" mehr als 100.000 russische Soldaten befinden. Dennoch scheint es inzwischen mehr Argumente gegen als für eine russische Invasion zu geben. Einerseits hat Russland am Dienstag angekündigt, einige der Truppen, die im Süden und Westen der ukrainischen Grenze stationiert sind, abziehen zu wollen. Speziell gegen einen Einmarsch aus Belarus über Tschernobyl spricht außerdem, dass das Gebiet alles andere als gut erschlossen ist. Wurzeln und Äste schränken die Bewegungsfreiheit 33 Jahre nach dem Atomunglück genauso ein wie Sümpfe, Moore und Flüsse in der näheren Umgebung. Es sei schwer genug, zu Fuß voranzukommen, geschweige denn mit einem Panzer, erklärte selbst der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am Rande der Militärübung in Prypjat.

Bei einem kurzen Aufenthalt in Prypjat besteht keine Gefahr, verstrahlt zu werden. Abseits der markierten Wege liegen allerdings auch Minen, die ukrainische Arbeiter suchen.

Bei einem kurzen Aufenthalt in Prypjat besteht keine Gefahr, verstrahlt zu werden. Abseits der markierten Wege liegen allerdings auch Minen, die ukrainische Arbeiter suchen.

(Foto: picture alliance / Photoshot)

Und auch wenn ein Kurzbesuch in der Region als gesundheitlich nicht gefährlich gilt - ganz ungefährlich ist er auch nicht. Bevor die ukrainische Armee ihre Übung begonnen hat, sind Arbeiter die Geisterstadt mit Geigerzählern abgelaufen, um mögliche Strahlen-Hotspots ausfindig zu machen. Davon gebe es in der Region einige, sagt Nuklearexperte Dokter. Vor allem abseits der wenigen markierten Wege liegen demnach oft verstrahlte oder kontaminierte Gegenstände herum. Dort schlummern auch sogenannte Wastedumps, Abfallgräber im Erdreich, in denen in den Tagen und Wochen nach der Reaktorkatastrophe alle möglichen Trümmer vergraben wurden.

Symbol für Moskauer Lügen

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Abgesehen davon allerdings ist Prypjat, die unwirtliche Geisterstadt, der ideale Ort, um den Häuserkampf zu üben. "Es gibt keine Zivilisten", erklärte ein ukrainischer Soldat dem französischen Nachrichtensender France24. "Wir können mit echter Munition schießen und so nah rangehen an die Realität wie möglich."

Aber die Region ist auch der lebende Beweis für das Scheitern der Sowjetunion. Tschernobyl gilt als größte Katastrophe der zivilen Atomkraft. Bei der Explosion des Reaktors wurde ungefähr 400 Mal so viel Strahlung freigesetzt wie beim amerikanischen Atombombenangriff auf Hiroshima. Hunderttausende Anwohner wurden zwangsumgesiedelt, Tausende Tiere und eine bis heute unbekannte Zahl an Menschen getötet.

Es ist der Ort, an dem die sowjetische Führung in Moskau ihre ukrainischen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Stich gelassen und belogen hat und vielleicht genau deshalb das ideale Symbol für eine ukrainische Mobilisierungskampagne.

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Quelle: ntv.de

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