Zwischenruf Erdogan - Zweischneidiges Schwert
31.10.2012, 12:32 Uhr
Demonstration gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Berlin.
(Foto: dpa)
Seine Landsleute in Deutschland ruft er jetzt zur Integration auf. Auf innen- wie außenpolitischem Gebiet tritt der türkische Premier jedoch zunehmend aggressiv auf. Eine rasche Mitgliedschaft in der EU strebt sein Land trotz gegenteiliger Bekundungen jedoch nicht mehr an.

Prunkvolle Repräsentation: Westerwelle und Erdogan eröffnen die weltweit größte türkische Botschaft.
(Foto: REUTERS)
Auch ein Recep Tayyip Erdogan ist lernfähig. Nannte er vor vier Jahren bei seinem Auftritt in Köln die Assimilation seiner Landsleute noch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so kommt er diesmal tolerant daher. Heute fordert er von ihnen, neben Türkisch auch Deutsch perfekt zu beherrschen. Goethe, Hegel und Kant müssten die in Deutschland lebenden Türken ebenso kennen wie türkische Autoren. Die Zurückhaltung des türkischen Ministerpräsidenten kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und den hier lebenden Türken – gleich welcher Generation, gleich, ob mit oder ohne deutschen Pass – Zukunftschancen zu eröffnen. Soweit, so gut.
Im Unterschied dazu gibt sich die Türkei auf heimischem wie auf internationalem Parkett alles andere als zurückhaltend. Die Wirtschaft boomt, auch wenn sich das Wachstum verlangsamt hat. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeitslosigkeit wieder über die Zehn-Prozent-Marke geklettert. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter.
Angst vor einem kurdischen Staat
Trotz mancher Fortschritte hat sich aber auch die Kluft zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und den religiösen wie nationalen Minderheiten nicht geschlossen. Der Kampf gegen die PKK-Guerilla tobt so intensiv wie seit Jahren nicht mehr. In diesem Zusammenhang steht der Vorwurf Erdogans an die Bundesregierung, sie unternehme zu wenig gegen PKK-Aktivitäten in Deutschland. Nichts fürchtet Ankara mehr als einen kurdischen Staat. Dabei hat gerade die Kehrtwende in der Syrienpolitik weg von der Umarmung Baschar al-Assads hin zur Unterstützung der bewaffneten Opposition den in Syrien lebenden Kurden einen größeren Spielraum eröffnet. Der Grund ist nunmehr fehlende Kontrolle des Regimes über das Kurdengebiet entlang der Grenze zur Türkei. Der syrische PKK-Ableger hat sich zudem bereits erste Gefechte mit der syrisch-arabischen Opposition geliefert. Auch dies ist ein Grund für die militärische Unterstützung der Rebellen durch Ankara.
Ein weiteres, hierzulande kaum beachtetes, Problem ist die Diskriminierung der Aleviten in der Türkei, die immerhin 25 Prozent der Einwohner ausmachen. Wenngleich die Aleviten nicht mit den in Syrien herrschenden Alawiten des Assad-Clans identisch sind, so fühlen sich beide Strömungen doch eher miteinander verbunden als mit den Sunniten. Auch dies spielt eine Rolle bei der 180-Grad-Wende der türkischen Politik gegenüber Syrien. Skrupel kennt Erdogan also nicht. Hatte er dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi einst einen Menschenrechtspreis verliehen, so hinderte ihn dies nach anfänglichem Zögern nicht, die NATO-Luftangriffen auf das nordafrikanische Land zu befürworten.
Geschosse nicht nur aus Syrien
Sollte die Türkei in Syrien einmarschieren, wie sie es im Irak wiederholt tat, könnte sich das NATO-Land Türkei darauf berufen und Gegenleistungen verlangen. Die Bundeskanzlerin sollte sich tunlichst bemühen, ihren Gast vor einem solchen Schritt abzubringen. Auf türkischem Gebiet einschlagende Geschosse aus Syrien stammen keineswegs zweifelsfrei aus den Geschützrohren der Assad-Armee, wie Ankara behauptet. Das bestätigte jüngst sogar der Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Europa, US-General Mark Hertling.
Einen Besuch beim Fußballspiel eines überwiegend türkischen Vereins in Berlin hat Erdogan wegen eines europapolitischen Termins zwar abgesagt. Der EU-Beitritt seines Landes dürfte aber in den Gesprächen mit der Kanzlerin eine eher untergeordnete Rolle spielen. Eine türkische Vollmitgliedschaft ist auch langfristig nicht in Sicht. Auch in der Türkei selbst haben sich hochrangige Politiker mit harschen Tönen gegen die EU zu Wort gemeldet.
Realistischerweise richtet sich der Blick der Türkei deshalb in den arabischen Raum. Führende Repräsentanten in den Umbruchstaaten betrachten das politische System der Türkei als Vorbild. Das muss nicht unbedingt im Sinne des Westens liegen. Und im Interesse der dortigen ethnischen und religiösen Minderheiten gleich gar nicht.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Manfred Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de