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Grüne Geschichtsvergessenheit Trittin kassiert verdiente Schläge

Jürgen Trittin bei einer Wahlkampfveranstaltung in Augsburg.

Jürgen Trittin bei einer Wahlkampfveranstaltung in Augsburg.

(Foto: dpa)

Die Pädophilie-Debatte um die Grünen trifft die Partei ins Mark: Ausgerechnet die Weltverbesserer haben in ihrer Frühzeit schwere Schuld auf sich geladen. Jetzt wird deutlich: Weder Demut noch Geschichtsbewusstsein sind bei den Grünen sonderlich stark ausgeprägt.

Der Abschied von der Agenda 2010 lief bei den Grünen vergleichsweise schmerzlos. "Wir stehen auch nach den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen der letzten Jahre vor dem Problem, dass viele Menschen ohne existenzsicherndes Erwerbseinkommen dauerhaft sozial ausgegrenzt werden", heißt es in einem Beschluss des Grünen-Parteitags von 2007. Anders als die SPD vollzogen die Grünen ihre arbeitsmarktpolitische Kehrtwende ohne größere Debatten.

Das liegt nicht nur daran, dass die Grünen weniger mit den Hartz-IV-Gesetzen identifiziert wurden als die Sozialdemokraten, die mit der Agenda noch immer nicht wirklich versöhnt sind. Der wichtigere Grund war: Die Grünen haben kein Verhältnis zu ihrer Geschichte.

Selbst an Jubiläen blicken Grüne ohne Begeisterung in die Vergangenheit. Als die Partei im März den 30. Jahrestag ihres ersten Einzugs in den Deutschen Bundestag feierte, spielten Politikerinnen wie Marieluise Beck und Antje Vollmer, die immerhin der ersten grünen Bundestagsfraktion angehört hatten, keine Rolle in der Inszenierung. Man hatte sie schlicht vergessen.

Die Rettung der Welt

Diese Geschichtsvergessenheit ist es, die den Grünen nun auf die Füße fällt. In ihrer Wahrnehmung war die Auseinandersetzung um die Pädophilie längst beendet. Schließlich war die berüchtigte BAG SchwuP, die "Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle", 1987 aufgelöst worden.

1987, das ist für Grüne Ur- und Frühgeschichte. Natürlich haben die Grünen von heute mit Pädophilen nichts am Hut. Allerdings müssen sie sich den Vorwurf machen lassen, nicht verstanden zu haben, dass sie selbst für ihre Geschichte verantwortlich sind. Und natürlich ist es richtig, dass die siebziger und achtziger Jahre eine andere Zeit waren; eine Zeit, in der Pädophile weitgehend unbehelligt im Windschatten der sexuellen Liberalisierung segeln konnten. Eine Zeit, in der Vergewaltigung in der Ehe noch nicht strafbar, in der Schläge ein legales Mittel der Erziehung waren. Allerdings ist das nur eine Erklärung, keine Entschuldigung.

Den Grünen wird gern eine überlebensgroße Hybris unterstellt, und sicher ist da etwas dran. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat vor ein paar Wochen im "Spiegel" eine Erklärung gefunden, die das Phänomen positiv gewendet erklärt: "Wer sich bei den Grünen engagiert, hat eine Mission", sagte er. Letztlich gehe es den Grünen "um nichts weniger als die Rettung der Welt". Wer die Welt retten will, dem geht der Blick für Details schon mal verloren.

Das strukturelle Versagen der Grünen

Jürgen Trittin hat sich mittlerweile entschuldigt - gefühlte 25 Jahre zu spät. "Wir wissen auch, dass wir dafür zu lange gebraucht haben", sagte er. Vor ihm hatte sich bereits Grünen-Chefin Claudia Roth ähnlich geäußert, auch Daniel Cohn-Bendit distanzierte sich mehrfach von pro-pädophilen Äußerungen, die er 1975 in einem Buch und 1982 in einer französischen Talkshow von sich gegeben hatte.

Ob man Cohn-Bendit seine Entschuldigung abnimmt, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Trittins Verfehlung war eine vollkommen andere, keine individuelle, sondern eine kollektive, die gewissermaßen für das Scheitern der gesamten Partei in der Auseinandersetzung mit Pädophilen in den 1980er Jahren steht. Ein gewichtiger Teil der Grünen habe in den frühen 1980er Jahre "begierig" all jene Positionen aufgesogen, "die eine Fundamentalliberalisierung versprachen, da der Kampf gegen 'Repression, Kriminalisierung, Ausgrenzung' gleichermaßen als Kernelement der eigenen Parteibildung galt", schreiben die Göttinger Politologen Franz Walter und Stephan Klecha mit spürbarer Erschütterung in der "taz".

Darin liegt das Problem, nicht im Kürzel "V.i.S.d.P." hinter dem Namen Trittin im Wahlprogramm einer grünen Liste von 1981. Das ist keine Verharmlosung, im Gegenteil: Das strukturelle Versagen der Grünen wiegt schwer. Wenn Politiker von Union und FDP jetzt dieses Versagen nutzen, um Wahlkampf gegen die Grünen zu machen, sollten die nicht mit Gegenangriffen reagieren. Die Schläge, die sie nun kassieren, mögen nicht fair sein. Verdient sind sie allemal.

Quelle: ntv.de

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