
Viele Menschen haben am Anschlagsort in Aschaffenburg Blumen und Kerzen niedergelegt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Zehn Jahre nach Beginn der großen Flüchtlingsankünfte in Deutschland ist Migration erneut das zentrale Wahlkampfthema. Kanzlerkandidat Merz verspricht die große Kehrtwende - und dürfte damit Erfolg haben, weil SPD und Grüne keine überzeugenden Antworten mehr finden.
Ein zweijähriger Junge kehrt von einem Ausflug mit der Kita-Gruppe nicht mehr heim zu seiner Familie. Ein ausreisepflichtiger, offenbar psychisch gestörter Afghane hat das Kind erstochen. Ein weiteres Kind wurde schwer verletzt. Ein Mann, der helfend einschreiten wollte, ist tot. Die Messermorde von Aschaffenburg sind extrem, sowohl in ihrer Brutalität als auch in ihrer Seltenheit.
Und doch scheint der Fall exemplarisch zu sein für eine Form von Kriminalität, die seit 2015 immer weiter zugenommen hat: Männer aus fernen Ländern, die in Deutschland Zuflucht suchten, treiben die Zahl der Gewaltdelikte nach oben (während die Opfer oft selbst Einwanderer sind). Die Ursachen sind komplex, haben oft auch mit der Form der Unterbringung und den Perspektiven von Geflüchteten in Deutschland zu tun. Aber dieses Wissen hilft ja nichts: Die gefühlte Unsicherheit hat zugenommen, das Vertrauen vieler Menschen in die Problemlösungsfähigkeit des demokratischen Rechtsstaats schwindet.
Angeführt von ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz versucht sich die Union erneut, nun aber mit noch mehr Wucht, an der großen Kehrtwende - vier Wochen vor der Bundestagswahl und zehn Jahre nach Merkels "Wir schaffen das"-Kurs. Merkel ließ sich damals leiten vom Gedanken der Humanität und ihrer Sorge um den Fortbestand der Europäischen Union angesichts eines großen Andrangs von Verfolgten und Hoffnungslosen aus der arabischen Welt. Und geschafft hat Deutschland erstaunliches: Viele der seither angekommenen Menschen sind gut integriert, sind Stützen des Gesundheits- und Pflegesystems, haben Ausbildungen abgeschlossen oder ermöglichen im Billiglohnsektor das bequeme Dasein der Alteingesessenen, indem sie Pakete oder Essen ausliefern.
Zugleich haben sich die schon vor 2015 bestehenden Probleme durch die millionenfachen Neuankünfte verschärft: Zu wenige und überalterte Lehrerinnen stehen vor Klassen mit immer mehr Nichtmuttersprachlern. Das deutsche Sozial- und Arbeitsmarktsystem bringt zu wenige Menschen dauerhaft in sozialversicherungspflichtigen Jobs unter. Es fehlt insbesondere in den Städten an Wohnraum. Dysfunktionale Behörden und unterausgestattete Polizeien werden den wachsenden Herausforderungen nicht gerecht. Die Versorgung und ineffiziente Integration der Neuankömmlinge kostet jährlich Milliarden Euro. Diese werden zwar womöglich langfristig durch den volkswirtschaftlichen Nutzen der zusätzlichen Arbeitnehmer aufgewogen, doch diese Größe ist für die meisten Menschen abstrakt. Konkret ist dagegen jeder Mord, jedes Attentat, die jährlichen Kriminalitätszahlen.
Merz' Gegner haben nur juristische Argumente
Viele dieser Probleme wären zu lösen gewesen: bessere Unterkünfte und engmaschigere Betreuung für Geflüchtete, bessere Schulen und mehr Wohnraum für alle, mehr Großzügigkeit in der Bevölkerung und ihre aktive Beteiligung an der Integrationsarbeit. Doch weder die politisch Verantwortlichen noch die Mehrheit der Menschen in Deutschland haben sich hierzu bereitgefunden. Das wissen auch SPD und Grüne. Die Ampel hat deshalb selbst Grenzkontrollen eingeführt und einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zugestimmt. Die Zugangszahlen sinken. Weniger und besser gesteuerte Migration ist Konsens zwischen praktisch allen Parteien. Die Änderungen greifen langsam, die Gewalt aber - Magdeburg, Aschaffenburg - ist jetzt.
Dennoch beschränkt sich die Antwort von SPD und Grünen auf die Grenzschließungswünsche von CDU und CSU auf die Formel: Sie seien weder mit dem grundgesetzlich verbrieften Asylrecht noch mit der EU-Gesetzgebung vereinbar. Merz' Gegner führen zudem die EU als Argument an, für deren Fortbestand Deutschland einstehen müsse. Mit humanitärer Verantwortung versuchen sie gar nicht erst zu überzeugen. Nur findet eine gerechte Lastenteilung in Europa faktisch nicht statt und alles Recht ist grundsätzlich veränderbar. Selbst eine Streichung des individuellen Asylrechts aus dem Grundgesetz muss im Ergebnis nicht weniger human sein als der Status quo. Die Option europäischer Kontingentlösungen liegt auf dem Tisch. Ihre Gegner sollten überzeugendere Argumente vorweisen können als den bloßen Verweis auf die aktuelle Gesetzeslage.
Die politische Linke hat ein Argumentationsproblem: Der Beweis, dass Deutschland jährlich viele Hunderttausend Menschen mehr oder weniger problemlos aufnehmen kann, ist nicht erbracht worden. Die Gesellschaft hat den Preis für so viel Humanität inzwischen mehrheitlich als für zu hoch befunden. Das kann man falsch finden, egoistisch und kurzsichtig. Aber so ist ausweislich der Umfragen nun einmal die Stimmung in Deutschland. Der Sauerländer Friedrich Merz teilt diese Stimmung und befeuert sie instinktiv. Wenn SPD und Grüne dem aus Überzeugung nicht nachgeben, ist das ehrenwert. Aber ohne bessere Argumente für weiterhin großzügige Flüchtlingsregelungen und ohne eine ehrliche Beschreibung der Realitäten im Land zahlen beide Parteien womöglich selbst einen hohen Preis - an der Wahlurne.
Quelle: ntv.de