Urteil zum EU-Reformvertrag Das "grundsätzlichste Grundsatzurteil"
30.06.2009, 19:54 UhrDas Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Bevor der Bundespräsident den Vertrag von Lissabon unterschreibt, müssen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat gestärkt werden. Klug und überzeugend findet die Mehrheit der Pressestimmen den Karlsruher Richterspruch, der den europäischen Integrationsprozess demokratisch befruchte. Vor allem die "willfährig abnickenden Berliner Abgeordneten" bekommen ihr Fett weg.

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Für die Süddeutsche Zeitung ist das Urteil der Richter das "grundsätzlichste Grundsatzurteil, das Karlsruhe je gefällt hat". Das Blatt aus München interpretiert: "Europa muss künftig ins Deutsche übersetzt werden. Die Abgeordneten müssen lernen, mit den europäischen Sternen zu hantieren." Der Richterspruch verlange von ihnen mehr Engagement, sie dürfen Europa nicht einfach den Brüsseler Bürokraten und den EU-Institutionen überlassen. Und vor allem: "Das Urteil verurteilt den Bundestag zu mehr Demokratie. Diesem spektakulären, glänzenden und klugen Karlsruher Urteil gelingt die Kunst, den europäischen Integrationsprozess nicht aufzuhalten, sondern ihn - bei einem deutschen Zwischenstopp - demokratisch zu befruchten."
Zu wichtig sei Europa, "um es allein den europäischen Institutionen zu überlassen", - das macht auch die Berliner Zeitung als zentrale Botschaft der "grandiosen Entscheidung" aus. "Sie billigt nicht nur den Vertrag von Lissabon, sie liefert in der durchweg überzeugenden Begründung zugleich ein Aufbauprogramm für ein demokratisches Europa." (…)"'Europa' als Zukunftsmodell der europäischen Staaten und Völker gehört auf die Agenda der nationalen Politik. Damit macht das Bundesverfassungsgericht die europäische Integration zu einem zentralen Thema der Innenpolitik. Über die wird in Bundestag und Bundesrat verhandelt und entschieden."
Die Ostsee-Zeitung zitiert Verfassungsrichter Di Fabio: "Die EU hat die Tendenz, nah am Bundesstaat zu segeln." Diesen Kurs habe das höchste deutsche Gericht vorerst gestoppt - mit einem "wegweisenden Ja-aber-Urteil". Das Blatt aus Rostock fasst das Urteil aus seiner Sicht zusammen: Es sei ein Ja zu Europa, aber ein Nein zu einem europäischen Superstaat, der Bundestag sei gestärkt und zugleich die Regierungschefs in ihre Grenzen verwiesen worden. "Sie haben den Abgeordneten des Parlaments und den Länderchefs den eigenen Spiegel vorgehalten. Die hatten sich nämlich mit ihrem weitgehend kritiklosen Ja zum EU-Reformvertrag in Bundestag und Bundesrat nahezu selbst entmachtet und mit sich auch gleich ihre Wähler."
Das Aschaffenburger Main-Echo bewertet das Urteil weniger positiv: "Als politische Botschaft ist indes auch das Karlsruher Überprüfungsverfahren dem Defensivgeist verfallen, der gegenwärtig die deutsche (und nicht nur die) Europapolitik durchweht." Zwar stimmten die Argumente, nicht hingegen die vermittelten Gefühle. Als eine Verteidigungsgemeinschaft, die "alle Kräfte gegen die mächtigen EU-Absaugkräfte mobilisieren muss", erscheine die Bundesrepublik, hingegen komme die EU als "Mittel nationaler Selbstverwirklichung" nicht mehr vor. Die Botschaft müsste anders lauten. Statt "Wenn wir gut aufpassen, macht Lissabon nichts kaputt", sollte es heißen: "Lissabon hilft den Deutschen, eigene Interessen besser zu vertreten." "Dafür, für eine offensive Legitimation, ist freilich die Politik eher zuständig als das Verfassungsgericht."
Die Landeszeitung Lüneburg stört sich an den Reaktionen auf das Lissabon-Urteil: "Wenn nach einem Urteil der Verfassungshüter alle Betroffenen voll des Lobes sind, war entweder der Richterspruch salomonisch oder manche Beteiligte haben nur das vernommen, was sie hören wollten. Der Vertrag von Lissabon ist gut, Deutschlands ritualisierte und nur noch schwach legitimierte EU-Politik hingegen verfassungswidrig." Die Lobeshymnen im Anschluss auf das durchaus weise Urteil gehörten jedoch "in den Bereich selektive Wahrnehmung". Das Blatt sieht die Linke irren, wenn sie frohlockt, "Karlsruhe habe die 'Selbstentmachtung' Deutschlands im Prozess der EU-Integration gestoppt", und ordnet den Richterspruch selbst ein: "Den Verfassungshütern geht nur die Handlungsautonomie der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag zu weit. Die Juristen nehmen die willfährig abnickenden Berliner Abgeordneten in die Pflicht."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Nadin Härtwig