Kapitän trägt Schuld am Schiffsunglück "Das wäre denn doch zu einfach"
16.01.2012, 20:41 Uhr
Wer trägt die Schuld an dem schrecklichen Schiffsunglück vor der italienischen Küste? Diese Frage beschäftigt derzeit die Welt. Die Reederei der "Costa Concordia" weist alle Verantwortung von sich: Kapitän Francesco Schettino habe das Kreuzfahrtschiff selbst gesteuert und die Route eigenmächtig geändert. Die Polizei ermittelt gegen den Schiffsführer. Doch ist der 52-Jährige Italiener tatsächlich allein verantwortlich für die Katastrophe?
"Was sich der Mann alles geleistet hat, scheint unfassbar", schreibt die Neue Presse: "Er hat als Kapitän seine 'Costa Concordia' viel zu nahe an die Küste bugsiert, er hat sich alleine auf Schiffkarten und Navigationssysteme verlassen - und als die schwimmende Kleinstadt anfing zu sinken, verlor Francesco Schettino vollends die Übersicht". Dennoch ist es für die Zeitung aus Hannover zu einfach, den Kapitän des Unglücksschiffes "als Alleinschuldigen zu brandmarken": "Wie kann es sein, dass kein Notfallplan funktionierte, dass das Personal komplett überfordert war, dass Passagiere um Sicherheitsausrüstung kämpfen mussten? Auch ohne Kapitän müssen die einfachsten Sicherheitskonzepte funktionieren. Von diesen Fragen will die Reederei ablenken - aber sie müssen gestellt werden. Am besten von der Justiz".
Der Münchner Merkur ist der gleichen Ansicht: "Ein unprofessionell agierender Kapitän, der auch noch Anstand vermissen ließ, trägt offenbar die Hauptschuld. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Das wäre denn doch zu einfach". Die Kommentatoren aus Bayern bringen einen weiteren Aspekt in Spiel: "Kreuzfahrten sind ein rasch wachsendes Segment der Tourismusbranche, in dem knallharter Wettbewerb herrscht. Größer, luxuriöser, spektakulärer lautet das Motto. Die schwimmenden Erlebnishotels haben Dimensionen erreicht, die Evakuierungen selbst dann zur Herausforderung machen, wenn sie strikt nach Handbuch verlaufen. Dazu ein risikobereiter Schiffsführer und eine zusammengewürfelte unterbezahlte Mannschaft, die für Ernstfälle nicht genügend trainiert ist: Das sind die Ingredienzien, aus denen Katastrophen entstehen können, wenn etwas schiefgeht".
Die Landeszeitung aus Lüneburg ist bemüht, die Umstände des Unglücks vor der italienischen Küste zu analysieren: "Oberflächlich betrachtet ist ein Schiffsunglück wie das der 'Costa Concordia' nicht mehr als die tragische Folge des Versagens Einzelner. Schürft man aber unter der Oberfläche kommen zwei Punkte ans Licht, die über das kurzatmige Drama hinausweisen: Zum ersten mag man kaum an einen Zufall glauben, dass sich dieses Unglück in italienischen Hoheitsgewässern abspielte. Spiegelt der Kapitän doch Verhaltensweisen wider, die in Berlusconis Italien Vorbildcharakter erlangt hatten: Blendungssucht gepaart mit Verantwortungslosigkeit. In einem weiteren Sinne entlarvt das Unglück der 'Costa Concordia' menschliche Hybris, sich als Herrscher der Natur zu fühlen, nur weil man ein 17-stöckiges Luxushotel auf das Meer schiebt". Doch, so die Kommentatoren aus Niedersachsen: "Das letzte Wort behält die Natur".
Eine Brücke zu Berlusconi schlägt auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Verantwortlich für das Unglück aber ist der Kapitän, ein Hasardeur offenbar, von dem nun vermutet wird, er habe Angehörigen auf der Insel Giglio imponieren wollen und sei deshalb so nah am Ufer entlang gefahren. Und so könnte das Bild der 'Concordia', die jetzt weiß und lang wie ein gestrandeter Wal vor der toskanischen Küste liegt, nicht zum Symbol für die Hybris einer Urlaubsform werden, sondern für das Ende der Ära Berlusconis".
Das Offenburger Tageblatt stellt die Frage nach möglichen Konsequenzen in den Raum: "Was soll die Folge der Katastrophe sein? Nicht mehr Schifffahren? Alle Kapitäne oder Crews vor Besteigen eines Schiffs persönlich überprüfen?". Die Antwort ist nach Ansicht der Zeitung aus Baden-Württemberg "banal, aber wahr": "Täglich sterben mehr Menschen durch unverantwortliche Autofahrer, als jetzt Passagiere wegen eines unverantwortlichen Kapitäns. Unglücke passieren, weil Menschen nun mal fehlerhaft sind".
Einen desillusionierten Blick auf die Auswirkungen des Schiffunglücks wirft die Nordsee-Zeitung aus Bremerhaven: "Meist ist von 'Luxuslinern' die Rede, wenn Landratten von einer Seereise träumen. Die Realität sieht in der Regel anders aus: Eine Kreuzfahrt ist längst Massenurlaub, ab 500 Euro für eine Woche - all-inclusive. Mit dem Unterschied, dass eine mallorquinische Bettenburg nicht untergehen kann - ein Kreuzfahrtschiff mit 3000 Passagieren an Bord dagegen schon. Dass die Branche insgesamt unter dem Desaster leidet, ist nicht zu erwarten. Nach jedem Flugzeugabsturz irgendwo auf dieser Welt setzen wir uns schließlich auch wieder in den Flieger: Auf nach Malle, zum All-inclusive-Urlaub in den unsinkbaren Bettenburgen".
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Susanne Niedorf-Schipke