Pressestimmen

Einigung auf Koalitionsvertrag "Dick, aber nicht stark"

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Nach zähen Verhandlungen steht der Vertrag für die Große Koalition - 185 Seiten zählt das Schriftwerk. Während die Parteispitzen die Einigung bereits bejubeln, steht die nötige Zustimmung der SPD-Basis noch aus. Die Kommentatoren der deutschen Presse bewerten den Kompromiss überwiegend kritisch. Von  "Politprosa", "Anti-Agenda" und "Beschlüssen für eine Schönwetter-Periode" ist die Rede.

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(Foto: picture alliance / dpa)

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert: "Das Papier ist dick, aber nicht stark." Vor allem wisse keiner genau, so das Münchener Blatt mit Blick auf das noch ausstehende Votum der SPD-Basis, ob dieser Anfang überhaupt ein Anfang sei. Der Satz, der zur sich formierenden Koalition passe, laute daher: "Diesem Auftakt wohnt ein Zittern inne." Aber dieses Zittern sei nötig, so die Zeitung abschließend, damit die SPD wieder regierungsfähig werde.

Die Berliner Zeitung äußert sich enttäuscht über die im Koalitionsvertrag festgelegten klimapolitischen Ziele: "Der Koalitionsvertrag ist beschämend. Rückwärts geht es. Langsamer wird es. Deutschland ist besorgt um die Belastung für die Stromkunden. Die Klimaziele werden gestutzt. Dass die wahren Folgen des Klimawandels Menschen zu tragen haben, die von Stürmen und Überschwemmungen heimgesucht werden, bleibt zweitrangig. Was tun wir? Wo übernehmen wir Verantwortung?"

"Der SPD-Basis sollte ein Ja zu Schwarz-Rot jetzt nicht mehr schwerfallen", schreibt der Münchner Merkur. Der Koalitionsvertrag sei durchtränkt vom "Gestaltungswillen der Staatsgläubigen". Die Beschlüsse von Union und SPD würden darauf abzielen, "Schröders Agenda 2010 zurückzudrehen, die Wirtschaft zu regulieren und den alten, unbezahlbar gewordenen Sozialstaat wieder herbeizuzaubern" Als Beleg führt die Zeitung an: "Die Rente mit 67 wird für einige wieder zur Rente mit 63. Mieten werden gedeckelt, starre Mindestlöhne den Tarifpartnern diktiert, Sozialausgaben aufgebläht, Lasten künftigen Generationen aufgebürdet." Dies sei eine Anti-Agenda resümiert die Zeitung aus der bayrischen Hauptstadt.

In gleichem Geiste kritisiert die Welt die Verhandlungsergebnisse von Union und SPD: "Der Koalitionsvertrag atmet den Geist des regelungsverliebten Etatismus", konstatiert die Zeitung und bemängelt den Abbau wirtschaftlichen Spielraums: "Die Freiräume, die Gerhard Schröder als Agenda-Kanzler zum Gedeihen der Volkswirtschaft und zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit schuf, werden systematisch zurückgenommen." Dabei seien die Parteien von unterschiedliche Motiven gelenkt: "Bei der SPD geschieht dies als Resultat einer ebenso nachvollziehbaren wie kreuzpeinlichen Scham über den Erfolg der Agenda 2010, bei der Union regiert der Merkelianismus, der die CDU in die erste postmoderne Volkspartei Europas verwandelt hat, in der das 'Anything goes' zum Wertefundament umgeformt wurde." Vor dem Hintergrund der Schuldenkrisen einiger EU-Staaten sei das vom Koalitionsvertrag ausgehende Signal für Europa verheerend, schreibt die Zeitung aus Berlin: "Wir predigen den Krisenländern Schulden und Entbehrung und mästen den drallen Sozialstaat weiter, anstatt ihn auf Diät zu setzen. Deutschland ist für Europa nicht länger Vorbild."

Auch die Aachener Nachrichten blicken kritisch auf die beschlossenen Geschenke an die Wähler von SPD und Union: "Darf's noch ein bisschen mehr sein? Nach diesem Motto hat die künftige Koalition ein hübsches Stück Politprosa zusammengedichtet, das allen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen und Grüppchen irgendetwas verspricht." Vor allem wenn es um die Kostenfrage gehe, sei dies "wachsförmig formuliert". Die Zeitung warnt dennoch davor, die künftige Koalition vorschnell abzuschreiben: "Ein großer, visionärer Wurf war unter den aktuellen Vorzeichen (…) nicht zu erwarten." Ein gesundes Maß an Skepsis sei aber angebracht: "Auf nennenswerte Entlastungen braucht sich niemand zu freuen. Denn finanziert werden die propagierten Wohltaten mutmaßlich nach dem Prinzip 'von der linken in die rechte Tasche' - Hauptsache, die eigene Klientel ist erst einmal ruhiggestellt."

Das Hamburger Abendblatt sieht die Generationengerechtigkeit in Gefahr: "Die Mütterrente, ein inniger Wunsch der CDU, kommt genauso wie die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren. Die Demografie aber ändert sich nicht." Die Einigung beweise auf fatale Weise, "dass die Großkoalitionäre inhaltliche Gräben mit Geldsäcken zuschütten und überbrücken - ohne Rücksicht auf die Finanzierung, die Generationengerechtigkeit oder die Nachhaltigkeit, also just die Ziele, die im Koalitionsvertrag wortklingelnd immer wieder zitiert, in der Umsetzung dann aber ignoriert werden." Die von Union und SPD erzielten Einigungen seien "Beschlüsse für eine Schönwetterperiode, die derzeit herrscht, aber schnell zu Ende gehen kann". Dabei hätten die Verhandlungsführer, so die Zeitung weiter, die politische Weisheit vergessen, "dass es für Geschenke kaum Dankbarkeit gibt, bei der Rücknahme von Geschenken aber geballter Widerstand droht".

Die Frankfurter Rundschau legt den Fokus auf die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland sowie in der EU und kommentiert: "Wer den Koalitionsvertrag am Reformbedarf unseres Landes misst, kann dieses Programm nicht guten Gewissens bejahen." Die Kanzlerin habe uns vorgemacht, der Wohlstand der deutschen Mittel- und Oberschicht ließe sich auf Dauer gegen die Unterprivilegierten hier und in Europa verteidigen, "ohne einen echten Aufbruch zum Wohlstand für alle zu wagen". Es werde sich jedoch zeigen, "dass das so auf Dauer nicht geht". Leidtragende wäre in diesem Fall die SPD: "Das wird ihr mehr schaden, als wenn sie jetzt Haltung gezeigt und das Bündnis verweigert hätte - selbst mit dem Risiko einer neuen Bundestagswahl."

Vor dem Hintergrund des schlechten Wahlergebnisses der Sozialdemokraten wertet die Westdeutsche Zeitung den Koalitionsvertrag als "Punktsieg für die SPD". Ihre starke Position bei den Verhandlungen mit den Unionsparteien erkläre sich dadurch, dass "sie stets mit der möglichen Ablehnung ihrer Mitglieder drohen konnte". Allerdings könne sich der Punktsieg schmerzhaft ins Gegenteil kehren: "Wenn der Mitgliederentscheid negativ ausfällt, darf die Führung der Genossen aufs Altenteil gehen." Doch auch bei einem positiven Votum sei nicht alles rosig: "Auch wenn die Koalitionspartner jetzt Harmonie vorspielen, Angela Merkel und die Spitzenleute der Union wissen genau, dass sie ein Stück über den Tisch gezogen wurden. Und speziell die Kanzlerin kann sehr nachtragend sein."

Zusammengestellt von Aljoscha Ilg

Quelle: ntv.de

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