Truppenabzug aus Afghanistan "Ein Abgang im Chaos"
12.03.2012, 20:52 UhrErst eine Koran-Verbrennung, dann der Amoklauf eines US-Soldaten und schließlich ein angedrohter Rachefeldzug der Taliban: In Afghanistan liegen die Nerven blank. Für Peter Proprawa von n-tv.de geschieht, was lange abzusehen war. Kanzlerin Merkel will trotz aller Schwierigkeiten nicht an den Abzugsplänen für die Bundeswehr rütteln. Die Soldaten sollen 2014 nach Hause kommen. Die Kommentatoren der deutschen Presse setzen hinter das Vorhaben ein großes Fragezeichen.
Die Volksstimme fasst das Geschehen zusammen: "Wenn das so weitergeht, wird aus dem Truppenabzug aus Afghanistan ein Abgang im Chaos. Vor knapp drei Wochen entschuldigte sich US-Präsident Obama dafür, dass seine Soldaten den für Afghanen heiligen Koran verbrannten. Jetzt erschoss ein US-Feldwebel in einem afghanischen Dorf 16 Menschen, darunter viele Kinder. Der 38-jährige zweifache Vater ist nach drei Irak-Einsätzen seit Dezember in Afghanistan. Was hat der Krieg aus ihm gemacht!" Für die Zeitung aus Magdeburg ist der politische Schaden immens: "Eine Tragödie - mit politischer Tragweite. Für die Taliban ist das ein gefundenes Fressen, um Hass gegen die Isaf-Truppen zu schüren. Der fällt offenbar auf fruchtbaren Boden. Das schwierige Verhältnis zwischen Kabul und Washington wird noch mehr belastet - mit möglichen Auswirkungen auf deutsche Truppen. 2014 soll Schluss sein. Wirklich? Hoffentlich!".
Die Westdeutsche Zeitung meint die Gründe für Merkels Bekräftigung des Abzugstermins aus Afghanistan zu kennen: "Nach dem Massaker eines US-Soldaten, bei dem 16 Menschen starben, ist die nächste Eskalation bereits programmiert. Kanzlerin Angela Merkel weiß das und hätte eigentlich allen Grund, das Abzugsdatum der Bundeswehr anzuzweifeln." Dass sie das nicht öffentlich mache, habe vor allem zwei Gründe, so das Blatt aus Düsseldorf: "Zum einen ist der Krieg am Hindukusch in der Bevölkerung unpopulär. Zum anderen geben die Deutschen in der Allianz nicht den Ton an. Das machen die Amerikaner, und die denken nicht daran, ihre Truppen länger in einen Waffengang zu schicken, der nicht zu gewinnen ist".
Das jüngste Versagen der US-Soldaten zum Anlass zu nehmen, der Kriegsmüdigkeit nachzugeben, wäre nach Ansicht des Tagespiegels "ein Fehler": "Weil es die Aufständischen stärken würde. Weil es Schmach und Schande für die Nato bedeutete. Vor allem aber, weil es einer Flucht aus der Verantwortung gleichkäme". Die Truppen jetzt aus dem Krisengebiet abzuziehen, wäre nach Ansicht der Zeitung aus Berlin "voreilig": "Es hieße, das Versprechen zu brechen, das der Westen durch seine Intervention den Frauen, den Jungen, den mutig für ein anderes, besseres Afghanistan Kämpfenden gegeben hat: Ihr seid nicht allein". Für den Kommentator steht der Westen "im Wort - und in der Pflicht. Er sollte dem Scheitern die Stirn bieten, den Extremisten entgegenstehen, für Demokratie und Rechtsstaat werben. Er sollte, wie Sisyphos, wissend um die Wahrscheinlichkeit des Misslingens, den Stein doch immer wieder den Berg hinaufrollen".
"Natürlich kann die westliche Welt ihre Soldaten nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag am Hindukusch kämpfen und ihr Leben riskieren lassen", ist in den in Münster herausgegebenen Westfälischen Nachrichten zu lesen. Und dennoch sei der richtige Zeitpunkt für den Rückzug "noch nicht in Sicht". Fest stehe aber: "2014 ist definitiv zu früh. Jedenfalls dann, wenn man das Wenige, das seit 2002 erreicht wurde, nicht binnen kürzester Zeit opfern will. Die Afghanistan-Mission braucht einen langen Atem. Das stand von Anfang an fest. Niemand muss sie mögen. Mittragen aber müssen wir sie alle".
Der Münchner Merkur stellt sich fest hinter die Kanzlerin: "Die Deutschen in Masar-i-Scharif stehen nicht so sehr wie die Amerikaner oder die Briten im Süden Afghanistans in der Schusslinie, aber sie führen wie diese einen Kampf, den sie nicht gewinnen können. Merkel tut deshalb gut daran, den Abzugstermin 2014 nicht infrage zu stellen. Jedes Rütteln an diesem international vereinbarten Termin würde nur den Widerstand der ohnehin täglich stärker werdenden Taliban stärken. Wie auch den der meisten Afghanen, die des langen und ruinösen Krieges müde sind".
Die Süddeutsche Zeitung warnt: "Nach dem Amoklauf wächst die Gefahr, dass der Abzugswunsch übermächtig wird und blind macht - blind vor den eigentlichen Gefahren, die Afghanistan drohen. Die größte Gefahr geht dabei von den radikalen Taliban aus, die nach wie vor keine politische Lösung wollen. Sie sind nach dem Massaker stärker denn je, die Zeit arbeitet für sie". Die Kommentatoren sehen die Zeit davonlaufen und warnen: "Was jetzt entschieden wird, prägt Afghanistan auf Jahre. Nun wird darüber bestimmt, ob das Land nach dem Abzug Frieden aus eigener Kraft halten kann. Wer jetzt schon mit Hilfe eines groben Rasters sein Urteil fällt, der trägt selbst zum Unfrieden bei".
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Susanne Niedorf-Schipke