Pressestimmen

Prozess für Auschwitz-Aufseher "Unverzichtbar", aber "zu spät"

Pressestimmen.jpg

Fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg müssen weitere mutmaßliche NS-Verbrecher mit Anklagen vor Gericht rechnen. Den 30 Beschuldigten wird Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vorgeworfen. In den Kommentaren der deutschen Zeitungen herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die Justiz die Verantwortung für die Verschleppung der Schuldsprüche zu tragen habe. Und so kommt auch die Frage auf, ob etwaige Prozesse die Schuld der Täter als auch das Versagen des Staates begleichen können.

Die neuen Untersuchungen waren nach dem Urteil gegen den im März 2012 verstorbenen KZ-Aufseher John Demjanjuk in Gang gekommen.

Die neuen Untersuchungen waren nach dem Urteil gegen den im März 2012 verstorbenen KZ-Aufseher John Demjanjuk in Gang gekommen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Für die Frankfurter Rundschau hat die deutsche Justiz "bei der Aufarbeitung von NS-Kriegsverbrechen versagt". Daran könnten nun auch die neuen Verfahren gegen 30 frühere KZ-Wächter nichts mehr ändern. "Denn sie kommen zu spät", lautet der Kommentar: "Seit Jahrzehnten leben NS-Verbrecher unbehelligt in Deutschland. (…) Je länger die Verbrechen zurückliegen, desto dreister verdrehen alte und neue Nazis die Wahrheit. Und es werden immer mehr, die nach einem Schlussstrich rufen. Dagegen setzt die Justiz ein wichtiges Zeichen. Denn die Verbrechen schreien bis heute zum Himmel". Deshalb, so das Fazit aus Hessen, müsse "der Rechtsstaat bis zuletzt alle Mittel der Strafverfolgung nutzen".

Nach Ansicht der Landeszeitung Lüneburg findet Deutschlands Gerichtsbarkeit endlich "ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermordes": "Das mag ausreichen, um noch ein paar Zeichen der Sühne zu setzen gegenüber den kleinen Rädchen der Vernichtungsmaschinerie. Das kommt aber um Jahrzehnte zu spät. Die historische Schuld einer zu nachlässigen Verfolgung der großen Schwungräder des industrialisierten Massenmordes kann so nicht mehr beglichen werden".

"Bis auf die inzwischen nur noch 30 Überlebenden dürften die meisten ihr Leben unbehelligt und in Frieden beschlossen haben. Ist es deshalb ein Akt der Willkür, nur die letzten überlebenden Täter zur Verantwortung ziehen zu wollen?", fragt die Mitteldeutsche Zeitung. Die Antwort lautet nach Ansicht des in Halle herausgegebenen Blattes: "Nein, denn eine Gleichheit im Unrecht gibt es nicht. Sofern die Beschuldigten verfahrensfähig sind, werden sie sich vor Gericht verantworten müssen. Die Urteile, die in diesen Prozessen gesprochen werden, sind unverzichtbar, auch wenn die Verurteilten ihre Haftstrafen nicht mehr antreten werden. Schon darin läge die Berechtigung der Prozesse. Denn beide, Justiz und Öffentlichkeit tragen die Verantwortung dafür, dass diese Schuldsprüche mehr als ein halbes Jahrhundert verschleppt wurden".

Die Nürnberger Zeitung schreibt: "Problematisch ist nicht das Alter der Männer, die nun endlich zur Verantwortung gezogen werden sollen, sondern die Tatsache, dass ihnen diese Verantwortung gar nicht mehr individuell nachgewiesen werden muss. Eine Verurteilung unabhängig von der Feststellung der persönlichen Schuld wäre freilich ein beunruhigendes Novum in der deutschen Rechtsprechung. Der Begriff der 'Beihilfe' verlangt nach bisher herrschender Lehre, dass die Unterstützung 'kausal für das Gelingen der Haupttat' sein muss. Diese Forderung wird von einer gewissermaßen berufsbedingten Tätigkeit am Tatort allein kaum erfüllt - so grauenhaft die umgebenden Zustände gewiss gewesen sind". Das Blatt aus Mittelfranken kommt zu dem Schluss: "Nein, Nazi-Greise verdienen kein Mitleid, aber sie sind es auch nicht wert, dass wir wegen ihnen rechtsstaatliche Normen verbiegen".

Die in Ulm herausgegebene Südwest Presse hofft, dass sich die Staatsanwälte in der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg mit ihrer Rechtsauffassung am Ende vor den Gerichten durchsetzen: "All jene, die - wo auch immer - zu Diensten waren in den NS-Vernichtungslagern, haben Beihilfe zum Mord geleistet. Die Todesmaschinerie funktionierte nicht nur, weil es Befehlsgeber, sondern auch, weil es Aufseher und Köche gab".

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen