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Wenn Senioren auf Syrer treffen Am Schachbrett spielt Herkunft keine Rolle

Wenn die Schachfreunde in Reinickendorf sich gegenüber sitzen, wird manchmal stundenlang kein Wort gesprochen.

Wenn die Schachfreunde in Reinickendorf sich gegenüber sitzen, wird manchmal stundenlang kein Wort gesprochen.

(Foto: imago/Westend61)

Wenn Erhard Müller und Yamen Ibraheem am Schachbrett sitzen, brauchen sie nicht viele Worte. Sie lassen die Figuren sprechen. Für den Syrer und den Senior sind weder die Sprachbarriere, noch der Altersunterschied ein Problem.

Auf den ersten Blick haben Erhard Müller und Yamen Ibraheem wenig gemeinsam – und trotzdem treffen sich die beiden inzwischen regelmäßig in dem kleinen Backsteingebäude in der Stargardstraße 3 in Berlin Reinickendorf. Wenn sie gemeinsam vor zwei Damen, zwei Königen, vier Türmen, vier Läufern, vier Springern und sechzehn Bauern sitzen, verbindet den Senior aus Berlin und den Doktor der Agrarwissenschaften aus Damaskus ihre Leidenschaft zum Schachspiel.

Vor elf Jahren kam Ibraheem mit einem Stipendium der syrischen Regierung nach Berlin - eigentlich nur, um an der Humboldt-Universität seine Doktorarbeit zu schreiben. Er will sein Deutsch verbessern und sucht Anschluss in der Hauptstadt. Schachturniere, die er im Internet spielt, langweilen ihn längst. Sein Hobby aufgeben, will er aber nicht. Er entscheidet sich, Kontakt mit einem Klub in der Nähe aufzunehmen.

"In Syrien ist die Schachkultur etwas anders als in Deutschland", erklärt der 36-Jährige in sehr gutem Deutsch. "Zuhause haben wir weniger organisierte Klubs. Bei uns trifft man sich eher auf der Straße oder in Cafés zum Spielen."

Schach ist international

Bei den Schachspielern im Verein "SVG Läufer Reinickendorf" fühlt sich Ibraheem gleich vom ersten Tag an willkommen und akzeptiert. Dass die meisten Mitglieder des Vereins fast doppelt so alt sind wie er, stört ihn nicht. Ganz im Gegenteil. "Ich kann von dem Altersunterschied nur profitieren." Gerade Senioren seien geduldiger und hätten mehr Zeit und Muße, sein Deutsch zu verbessern.

"Manchmal sitzt man sich mit seinem Gegner fünf Stunden am Schachbrett gegenüber und spricht keinen einzigen Ton", erzählt Erhard Müller. Er ist Vorsitzender des Schachclubs. Und trotzdem habe man am Ende ein Gespür füreinander entwickelt. Für das 66 Jahre alte Vereinsmitglied Ronny Fiedler ist das eine Selbstverständlichkeit. Berührungsängste kennt er nicht. "Ich achte schon darauf, dass ich mit Ibraheem langsam spreche und gebräuchliche Begriffe benutze." Aber am Schachbrett spiele seine Herkunft eh keine Rolle. "Schach ist international. Im Grunde könne wir uns am Brett auch ohne Worte verständigen."

Zu seinen Kollegen an der Universität hat Ibraheem von Beginn an ein gutes Verhältnis. Mit Gutachtern, Mitarbeitern und Vorgesetzten bleibt der Kontakt aber immer förmlich. Den ungezwungenen Umgang lernt er erst im Schachclub – auch hinsichtlich der Sprache. Bei den Läufern aus Reinickendorf benutzt er das erste Mal "Du". Für Müller eine Selbstverständlichkeit – würden ältere Leute Jüngere doch automatisch immer gleich duzen. Despektierlich sei das aber nicht gemeint, versichert Müller. "Ich bin froh, dass es bei uns keine Hierarchien gibt. Yamen spielt so gut Schach, ich müsste sonst immer 'Sie' zu ihm sagen", scherzt der 72-Jährige.

Schachspielen verlangt mentale Stärke

Zwischen den Partien, sowie vor und nach den Trainingsabenden ist genug Zeit, um auch mal über etwas anderes als Schach zu reden – schon mehrmals haben Müller und seine Schachfreunde Ibraheem dabei geholfen, formelle Briefe an die Ausländerbehörde zu schreiben. Inzwischen sitzen neben Ibraheem noch fünf weitere Syrer regelmäßig mit den Senioren am Schachbrett. Ibraheem hat sie entweder in Integrationskursen, die er am BTB-Bildungszentrum gibt, oder über eine Facebook-Gruppe kennengelernt.

Über das Soziale Netzwerk hat auch Adnan Khalaf seinen Weg zu den Läufern gefunden. Der 42-Jährige ist vor einem Jahr gemeinsam mit seinem Sohn zu Fuß über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Seine anderen drei Kinder und seine Frau musste er in Syrien zurücklassen. Wie viele andere Geflüchtete hat er die erste Zeit in Deutschland tage- und wochenlang vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit verbracht. Oftmals nur, um den Aufenthalt in einem Flüchtlingsheim für ein paar Nächte zu verlängern.

Schachspielen verlangt mentale Stärke. Sich hundertprozentig auf den nächsten Zug zu konzentrieren, ist unumgänglich. Wenn Khalaf in Reinickendorf vor dem Schachbrett sitzt, gelingt es ihm für ein paar Stunden seine Probleme, die er mit den deutschen Behörden hat, zu vergessen. "Wenn ich Schach spiele, kann ich das alles ausblenden und konzentriere mich nur auf das Spiel", sagt er. Im vergangenen Jahr hätte Khalaf fast die Klubmeisterschaft gewonnen.

Mit null Gegenstimmen zum Vize-Präsidenten

Für die Senioren aus Reinickendorf sind die syrischen Schachfreunde auch deshalb wichtig, weil sich immer weniger Kinder und Jugendliche für ihren Sport interessieren. Seit einer Weile bietet der Verein immer sonntags ein Jugendtraining an. Gut nachgefragt wird das allerdings nicht. "Schach ist ein Sport, der viel Zeit braucht. Für uns Senioren ist das eine gute Sache", sagt Müller. Doch Kinder und Jugendliche hätten besonders in der Pubertät andere Interessen. Fußball, Handball oder Computer stellen eine Konkurrenz dar, mit der die Läufer nicht so recht fertig werden.

Die neuen syrischen Schachfreunde genießen unter den Senioren ein hohes Ansehen. "Wir schätzen Ibraheem und seine Landsmänner nicht nur, weil sie freundlich sind, sondern auch, weil sie so gut Schach spielen können. Sie sind ein wirklicher Gewinn für unseren Verein", sagt der 72-Jährige. Schach sei eben eine Kunst und wer sie beherrscht, der wird geschätzt. Dass auch menschlich etwas gewachsen ist, hat auch die Wahl auf der Hauptversammlung bewiesen: Einstimmig ist Ibraheem zum zweiten Vorsitzenden gewählt worden.

Quelle: ntv.de

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