"Eine Saison aus der Hölle" Das schwerste Jahr der NBA-Geschichte?
24.07.2021, 17:00 Uhr
Superstar LeBron James verpasste nach einer Sprunggelenksverletzung gleich 27 Spiele.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Leere Hallen, erschöpfte Athleten, Verletzungen, Covid-19: Die abgelaufene Spielzeit hielt mehr Zwickmühlen für Liga und Profis bereit als jemals zuvor. War 2020/21 seinen Preis am Ende wert? Viel Zeit für Bilanzen bleibt nicht. In zwölf Wochen geht alles wieder von vorne los.
Giannis Antetokounmpo und seine Milwaukee Bucks hatten die Meisterschaft noch gar nicht gewonnen. Lange bevor sie in der Nacht zum Mittwoch von Commissioner Adam Silver die "Larry O'Brien"-Trophäe überreicht bekamen, dominierte eine Diskussion die Schlagzeilen in diesen Playoffs, der Endrunde der nordamerikanischen Basketball-Meisterschaft.
Wie viel ist dieser Titel überhaupt wert? Und wie hoch - nun, da sich das 74. Jahr in der Geschichte der Liga dem Ende neigte - war der Preis, den die NBA und ihre Spieler in den zurückliegenden zwei Saisons bezahlt haben, tatsächlich?
Zwei Saisons, im Dickicht einer globalen Pandemie aufeinander gestapelt, getrennt von der kürzesten Pause aller Zeiten, erschwert durch vorher nie dagewesene Hürden: leere Hallen bis weit ins letzte Saisonviertel, endlose COVID-19-Protokolle, -Tests und -Ausfälle, erschöpfte Athleten, Mitarbeiter und Funktionäre.
Wenigstens nicht die "Bubble"?
Nur 71 Tage, nachdem die Liga ihre wieder angelaufene Saison 2019-20 in einer künstlichen, abgeschotteten Blase im "Walt Disney World Resort" zu Ende hatte bringen lassen, ging es bereits von vorne los. Man könne sich weitere finanzielle Verluste nicht leisten, hieß es, als nach der beschleunigten Zeitleiste gefragt wurde. Bedrängt von TV-Partnern, beunruhigt durch weitere Verlustprojektionen im Milliarden-Bereich, einigten sich die 30 Teambesitzer und Spielergewerkschaft auf einen Re-Start vor Weihnachten. Nie war die Off-Season kürzer gewesen.
Immerhin: Niemand vermisste die "Disney-Bubble", in der manche Spieler laut eigener Aussagen bis zu drei Monaten "wie in einem Gefängnis" lebten. Sie konnten damals nirgendwo hin, aßen täglich drei- bis viermal das gleiche Essen, waren isoliert von Freunden, Familien und Privatleben.
"In diesem Jahr war es einfacher, weil wir raus konnten", sagte L.A. Clippers All-Star Paul George, dessen Depressionen und Leistungsabfall in der Blase Aufsehen erregt hatten. "Ich kann wieder ein halbwegs normales Leben leben. Ich kann nach Hause, Zeit mit meiner Familie verbringen und auch mal mit Leuten sprechen, die nicht Teil meines Teams sind. Das sind kleine Schritte zurück zur Normalität."
COVID, die "No-Fun-Polizei"
Die Rückkehr in die eigenen Hallen und Trainingsräume und etwas mehr "Alltag" brachte ein wenig Vertrautheit mit - wenngleich die Anforderungen dieser Saison ungleich höher blieben als gewohnt. Irreguläre Schlafrhythmen, lange Nächte, ständiges Reisen und maximale Volatilität gehören zum NBA-Standard. Unzählige Regeln, Verbote sowie der Verlust der kameradschaftlichen Leichtigkeit setzten den Profis aber mehr zu denn je.
Im Januar, als sich links und rechts Spieler mit Covid-19 infizierten, ordnete die Liga zwei obligatorische Tests pro Tag an - für alle! Dennoch rafften Virus-Cluster ganze Teams dahin: Klubs wie Washington, Boston oder Memphis mussten ihre Anlagen Tage bis Wochen schließen. Spieler litten an Spätfolgen, auch noch lange nach der Ansteckung. Zwischen dem 23. Dezember und 28. Februar mussten 31 Partien verschoben werden. Insgesamt 1659 Tage wurden aufgrund des "Health & Safety Protocols" verpasst, das sind 55 pro Team. 161 Profis, mehr als ein Drittel der Liga, waren betroffen. Wer genau, das gab die NBA nie bekannt. Unternehmenspolitik.
Das Verbot von Fans in den Arenen eliminierte auch so gut wie jeden Heimvorteil, den Teams in der NBA normalerweise genießen. Gastgeber gewannen diesmal nur knapp über die Hälfte ihrer Partien - 54,3 Prozent - weniger als jemals zuvor in der Geschichte der NBA; der historische Durchschnitt liegt bei über 62 Prozent. Die Toronto Raptors - immerhin Champions 2019 - mussten ihre Heimat aufgrund von Reisebeschränkungen sogar nach Tampa/USA verlagern. Das letzte echte Heimspiel der Kanadier war am 28. Februar 2020; sie verpassten zum ersten Mal seit 2013 die Playoffs.
Viel Stress, zu viel Stress
Der mentale Stress, dem alle Beteiligten ausgesetzt waren, permanent unterbrochene Schlafzyklen und die Nonstop-Belastung über Wochen und Monate rächten sich bald. Kaum waren die dunklen Wintermonate überstanden, kamen die Verletzungen. Ein Star nach dem anderen knickte weg, die Krankenliste in der entscheidenden Saisonphase war irgendwann länger als das 158 Seiten dicke Gesundheits- und Sicherheits-Manuskript der NBA.
LeBron James, Kawhi Leonard, James Harden, Kyrie Irving, Anthony Davis, Joel Embiid, Paul George, Donovan Mitchell, Trae Young, Jaylen Brown - noch nie haben All-Stars eine höhere Prozentzahl an Spielen verpasst als in dieser Saison. Laut dem "Elias Sports Bureau" waren die Stars in 370 von 1944 Fällen nicht einsatzbereit (19 Prozent).
"Die Zahlen suggerieren einen kleinen Anstieg an verlorenen Partien aufgrund von Verletzungen", erklärt der zertifizierte Sportmediziner Jeff Stotts gegenüber ntv.de. "Mit zunehmender Saisondauer nahm auch die Anzahl von Verletzungen des Weichgewebes - etwa Muskeln und Sehnen - zu. Kombiniert mit der Tatsache, dass so viele Spieler von All-Star-Format ausfielen, wäre es vermessen anzunehmen, dass der komprimierte Spielplan keinen Einfluss auf die Verletzungs-Trends dieser Saison hatte."
Drei der vier Teams (L.A. Lakers, Miami, Boston), die 2020 noch die Conference Finals erreicht hatten, scheiterten heuer bereits in Playoff-Runde eins. Denver schied in Runde zwei aus. Keine an Nummer eins gesetzte Mannschaft schaffte es ins Finale - das hat es seit 37 Jahren nicht gegeben.
Im Gegenzug machten genau die zwei Teams mit positiver Bilanz, die kumulativ die wenigsten Spiele durch Verletzungen und COVID-Protokolle verpassten, am Ende den NBA-Titel unter sich aus: Milwaukee und Phoenix.
"Sorry, Fans!"
LeBron James war außer sich: "Sie wollten alle nicht auf mich hören. Ich wusste ganz genau, was passieren wird", zwitscherte der größte NBA-Star seiner Generation. "Ich wollte nur die Gesundheit der Spieler schützen, die am Ende PRODUKT und PROFIT UNSERES SPIELS ausmachen. Diese Verletzungen sind nicht einfach nur TEIL DES SPIELS (...) Acht, neun ALL-STARS haben Playoff-Partien verpasst (historischer Liga-Rekord). Das ist die beste Zeit des Jahres für Liga und Fans, aber viele Lieblingsspieler sind nicht dabei. Es ist verrückt (...) Sorry Fans, ich wünschte, ihr könntet gerade alle eure Lieblingsspieler sehen."
Seine Lakers waren gerade am späteren Finalisten Phoenix gescheitert, James selbst zum ersten Mal in seiner Karriere bereits in Playoff-Runde eins. Die Endrunde hielt unzählige Überraschungen und Offensiv-Rekorde parat - auch das ein Nebenprodukt dieser außergewöhnlichen Saison. Vielleicht war nicht mehr Gegenwehr möglich. Natürlich ist es müßig, über die Rechtmäßigkeit dieses Titels zu streiten. Die Bucks haben ihn sich redlich verdient, Champions mit Sternchen existieren nicht. Es ist nicht Milwaukees Schuld, dass verstauchte Gelenke und ramponiertes Weichgewebe ihre Konkurrenten außer Gefecht setzten. Wer weiß, was passiert wäre, wenn sich Antetokounpmos Knie gegen Atlanta ein paar Millimeter weiter verbogen hätte. Glück spielt immer eine Rolle.
"Die Verletzungsraten waren in etwa dieselben in dieser Saison wie in 2019-20. Starter und All-Stars haben in etwa genauso häufig Spiele verpasst wie in den vergangenen drei Jahren", entgegnete Ligasprecher Mike Bass Kritikern im Juni. "Verletzungen sind leider Teil unseres Spiels, dennoch rechnen wir die enorme Aufopferung von Spielern und Teams während dieser Pandemie sehr hoch an."
Physisch, mental, emotional - die Tanks sind leer. Eine chaotische, strapaziöse Saison 2020-21 ist zu Ende. 72 Partien plus Playoffs, hineingequetscht in nur sieben Monate. Die Motivation für Bosse und Spieler, den müden Gaul unverändert vor den alten Karren zu spannen, bleibt unverändert: Geld. Viel Geld. Viel Zeit, um Bilanz zu ziehen und die nötigen Anpassungen zu treffen, bleibt ohnehin nicht - selbst wenn Protagonisten das wollten. Start der Trainingscamps für die kommende Spielzeit ist bereits am 26. September. Die neue NBA-Saison beginnt in 86 Tagen.
Quelle: ntv.de