
Nikola Jokic besiegte mit seinen Denver Nuggets die Phoenix Suns deutlich.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Schwerfällig, langsam, Nikola Jokic. Der serbische NBA-Star erinnert von der Körpersprache an Mesut Özil - doch dominiert die Playoffs mit den Denver Nuggets monströs wie kein Zweiter. Wieso ist der unsportlich wirkende Gigant, der nun eine große Mission hat, so gut?
Dieses Team ist für den NBA-Titel gebaut. Zumindest auf dem Weg ins Finale wird niemand die Mannschaft aufhalten können. Das sind sich fast alle Experten einig. Die Rede ist von den Phoenix Suns. Nach der Verpflichtung von Megastar Kevin Durant zur Mitte der Saison wird das Team um Devin Booker, Chris Paul und Deandre Ayton zu seinem Superteam auserkoren. Alles andere als die Finals galt als Versagen.
Aber sie alle haben nicht die Rechnung mit dem schwerfälligen, ungelenkigen Monster aus den Tiefen Südosteuropas gemacht. Mit Nikola Jokic. Der Serbe ist seit Jahren einer der besten Basketballer der Welt, doch wird aufgrund seiner fehlenden Athletik noch immer nicht als absoluter Superstar wahrgenommen. Und seine Denver Nuggets werden nach der besten Punkteausbeute im Westen in der regulären Saison selbst in den Playoffs noch unterschätzt. Nun sind die Nuggets nur noch einen Schritt vom NBA-Finale entfernt, nachdem sie die Suns in Spiel 6 des Halbfinals der Western Conference mit 125:100 förmlich überrennen und Phoenix damit 4:2 schlagen.
Der Mannschaft aus Arizona ergeht es wie so vielen Teams in diesem Jahr. Sie hat einfach keine Antwort auf Jokic, der im Durchschnitt ein Triple-Double (zweistellige Werte in jeweils drei statistischen Kategorien) mit 30 Punkten gegen die Suns erzielt. Am Donnerstagabend beendet der 28-Jährige eine phänomenale Serie mit seinem dritten Triple-Double in vier Spielen - 32 Punkte, 12 Assists und 10 Rebounds - und trifft 13 von 18 Würfen.
Jokic mit Schultern wie Mesut Özil
Jokic, immerhin zweimaliger MVP in 2021 und 2022 und auch in diesem Jahr einer von drei Kandidaten im MVP-Rennen, das steht fest, ist nicht der Superstar à la LeBron James oder Stephen Curry, den sie in den USA gerne auf riesige Billboards pflastern. Einerseits, weil Denver ein kleiner Markt ist und keines der pompösen Teams aus Kalifornien oder von der Ostküste. Andererseits, weil Jokic beinahe so wenig "flashy" und athletisch daherkommt wie Dirk Nowitzki in seinen letzten NBA-Jahren (keine Kritik am Meister von 2011, der in seinen jungen Jahren durchaus elegant zum Korb zog, aber später selbst erklärte, eben nicht der athletischste Basketballer zu sein).
Manche NBA-Profis, allen voran James seit zweit Jahrzehnten, scheinen mit ihrer Athletik den Gesetzen der Physik zu trotzen. Doch Jokic ist nicht schnell. Er ist weder sonderlich muskulös noch stark. Wirkt schlichtweg ungelenkig. Langsamfüßig und schwerfällig. Ähnlich wie im Fußball Ex-Nationalspieler Mesut Özil schleicht Jokic mit hängenden Schultern und Schlafzimmerblick über den Court, sieht oft erschöpft aus. Wenn er zu einem Drei-Punkte-Wurf ansetzt, zieht er seinen massiven, 211 Zentimeter großem und laut Wikipedia 129 Kilogramm schweren Körper (wurde früher als "fettleibig" eingestuft) fast wie in Zeitlupe hoch und schnippt lässig mit dem Handgelenk, als ob die Basketball-Partie gerade seinen Tag der Entspannung unterbrechen würde. Wenn der Ball durchs Netz saust, trottet Jokic mit stoischem Gesichtsausdruck zurück in die eigene Hälfte.
Dabei ist er abseits des Parketts lustig und beliebt. Der wegen seiner Scherze als "Joker" bekannte Serbe, der sich lieber um seine Pferde als um einen Instagram-Account kümmert, spielt sogar mit seinem teilweise plump wirkenden Spiel. "Wir sind schon ähnlich, was das Spiel und die Schnelligkeit angeht, aber er ist ein paar Jahre älter als ich und ich weiß nicht, ob er so hoch springen kann wie ich", sagt Jokic einst über LeBron James. Nur um dann schnell mit einem Lachen hinzuzufügen: "Nein nein, ich mache natürlich nur Spaß."
"Joker ist der beste nicht-sportliche, nicht-schnelle, nicht-kraftvolle Center, den ich in meinem Leben gesehen habe. Er erzielt 40 Punkte, aber spielt wie ein einfacher Kerl im Park", urteilt Center-Legende Shaquille O'Neal jüngst: "Ich beobachte sein Spiel und denke: 'Verdammt, Mann'. Ich habe diesen Mann noch nicht springen sehen. Er holt nur auf den Zehenspitzen fünf Rebounds."
"Generationentalent" Jokic
Athletik hin oder her, Jokic ist vielleicht der beste nicht-sportliche Sportler aller Zeiten. Der Serbe liefert seit Jahren eine Show, die die NBA so noch nie gesehen hat. Jede Nacht beeindruckt er mit dem Basketball auf eine Art und Weise, wie es noch niemand von seiner Größe und seinem Körperbau zuvor getan hat. Zwar ist er nicht der Superstar, auf den das grelle Scheinwerferlicht gerichtet wird. Aber einige in der Liga verneigen sich schon länger vor dem Joker und seinem schier unendlichen Werkzeugkoffer.
Sein Coach Mike Malone nennt ihn ein "Generationentalent". Trainer-Legende Gregg Popovich von den San Antonio Spurs findet ihn "zu verdammt gut", dass es einfach "nicht fair" sei. Und NBA-Ikone Charles Barkley, der als einer der wenigen Experten vor der Serie gegen die Suns auf Denver tippte, lobte vor wenigen Tagen, nachdem Jokic die Nuggets gerade mit 39 Punkten und 16 Rebounds zur 2:0-Führung gegen die Suns gekämpft hatte: "Ich muss den Leuten einfach sagen, lasst uns die 'greatness' genießen, wenn wir diesen 'Joker' spielen sehen."
Diese Großartigkeit sieht wie folgt aus. Jokic kann auf dem Basketballcourt fast alles. Vor allem offensiv. Er kann ein Spiel an sich reißen. Er kann seine Gegner in vielerlei Hinsicht schlagen. Punkte, Assists, Rebounds. Jokic führt alle Spieler auf dem Parkett meist gleich in allen drei Kategorien an. Aber nicht nur das, es ist die Art, wie er das Spiel anleitet, seine Mitspieler in Szene setzt und besser macht und dem anderen Team seinen Willen aufzwingt. Jede Angriffswelle läuft über den Serben, mit enormer Spielintelligenz, feinem Ballgefühl und großartiger Bein- und Fußarbeit seziert er gegnerische Defensiven. In Sachen Geschicklichkeit, Antizipation und dem Treffen der richtigen Entscheidungen kann ihm keiner das Wasser reichen.
Vor allem sein Passspiel wird gerne herausgehoben. Jokic, der sich selbst als Aufbauspieler im Körper eines Big Man sieht, ist wohl der beste Passgeber unter den Centern in der Ligageschichte. Er führt gar alle Spieler in der NBA bei den Pässen in den letzten drei Spielzeiten mit großem Abstand an. Jokic ist bekannt für seine außergewöhnliche Übersicht auf dem Spielfeld, seine Genauigkeit bei selbst schwierigsten Zuspielen und seine Fähigkeit, offene Mitspieler zu finden.
Würfe wie Nowitzki
In der Geschichte der NBA gab es nur wenige echte Big Men, die eine ganze Saison lang durchschnittlich sechs oder mehr Assists pro Spiel beisteuern konnten. Jokic schaffte diese Spielzeit durchschnittlich fast zehn. Die Fähigkeit der Nuggets, ihre Offensive über Jokic zu steuern, führt zu Spielzügen, auf die die gegnerische Verteidigung oft nicht vorbereitet ist. Der Serbe bringt die gegnerischen Center, die normalerweise der Dreh- und Angelpunkt der Verteidigung sind, dazu, sich vom Korb zu entfernen, und eröffnet damit Angriffswege und Raum für den Rest der Offensive.
Auch dieser Punkt verbindet Jokic mit Nowitzki, der in den 2000er-Jahren ein Aushängeschild für die Wirkung dieses sogenannten Big-Man-Spacings war. Trotz seiner Größe von 213 Zentimetern war Nowitzki einer der besten Schützen in der NBA und Jokic verfügt nun über diese Nowitzki'eske Fähigkeit, Würfe von der Dreierlinie (sogar aus dem Dribbling, was nicht das Ding des Deutschen war), aus der Mitteldistanz und am Korb zu treffen. Auch sein patentierter "Sombor Shuffle" ist an den einbeinigen Flamingo-Wurf von Nowitzki angelehnt.
Dank seiner Wurfstärke und Passgenauigkeit schreibt der Serbe in diesem Jahr sogar Geschichte: Er überholt die Legende Wilt Chamberlain (erzielte als einziger 100 Punkte in einem Spiel) und schafft die meisten Triple-Doubles eines Centers in der Geschichte der NBA-Playoffs. Außerdem wird er zum dritten Spieler in der Historie der NBA, der in einer Playoff-Serie ein Triple-Double mit 30 Punkten im Durchschnitt erzielt hat.
Jokic ist unaufhaltsam. Seit 'greatness' ist unvermeidlich. Er ist so gut, in allen seinen Spielen, dass Dominanz zur Routine wird. Auch deshalb werden seine Nuggets manchmal noch unterschätzt. "Jokic ist praktisch nicht zu verteidigen", analysiert Ex-Profi Jalen Rose bei ESPN, als Denver in der Halbzeit gegen die Suns bereits mit 30 Punkten in Richtung West-Finale spazieren.
Denn der Serbe kann eigentlich jede Position auf dem Feld spielen. Einer der effektivsten Spielzüge der Nuggets besteht darin, dass Jokic den Ball an der Freiwurflinie oder darüber an der Dreierlinie erhält und ihm das gesamte Spielfeld zur Verfügung steht. Wenn ein Doppelteam kommt, findet Jokic lässig Schützen oder Spieler, die zum Korb ziehen. Wenn er allein gedeckt wird, geht Jokic einfach auf den Verteidiger zu oder schießt über ihn hinweg. Er bewegt sich nicht schnell. Aber er läuft immer genau dorthin, wo er hin muss - oder er sorgt dafür, dass der Ball dorthin kommt.
Mission gegen James oder Curry
"Vollständige Beherrschung", sieht Mike Greenberg, Experte beim US-Sender ESPN, am Donnerstagabend. Denn das ist, was Jokic macht. Seit Jahren. Er dominiert beinahe jeden Gegner nach Belieben. Dennoch erntet er von Fans und Experten immer wieder Kritik. Er sei ein Regular-Season-Star, heißt es da. Einer, der in den Playoffs nicht an seine Leistungen aus der regulären Spielzeit anknüpfen und sein Team nicht zum Titel führen könnte.
Nun stehen seine Nuggets zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren im Finale der Western Conference. Dort soll diesmal die Reise des südosteuropäischen Monsters nicht zu Ende sein. Jokic ist auf einer Mission. Die komplette Saison über schon. Das Ziel ist der NBA-Titel. Der erste der Nuggets überhaupt.
2020 stolperte Denver im West-Endspiel über die Los Angeles Lakers, die auch diesmal der Gegner sein könnten. Wenn es nicht der Titelverteidiger wird, die Golden State Warriors, der die Nuggets im vergangenen Jahr in der ersten Runde rauswarf. Dann werden sich alle Augen wieder verstärkt auf die unglaubliche Athletik von LeBron James oder das Dreier-Spektakel Steph Currys richten. Während ein langsamfüßiger und schwerfälliger Mann namens Nikola Jokic auf Rache sinnt und auf ungelenke und stille, aber historische Art und Weise dominiert. Mit einer der besten Shows, die der Sport derzeit zu Gesicht bekommt.
Quelle: ntv.de