"Werde beide Hymnen singen" Der Bundestrainer steckt jetzt doppelt in der Klemme
17.01.2024, 10:32 Uhr
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft verliert erstmals bei der Heim-Europameisterschaft, jede weitere Niederlage wäre wohl gleichbedeutend mit dem Ende aller Träume von einem rauschenden Finale. Für Bundestrainer Alfred Gíslason ist das kommende Spiel eine besondere Prüfung.
"Sehr stolz" sei er auf sein Team, sagte Bundestrainer Alfred Gíslason. Das Team, die deutsche Handball-Nationalmannschaft, hatte dem Rekord-Weltmeister Frankreich zuvor ein großes Spiel geliefert, noch zehn Minuten vor Schluss hatte man den Mitfavoriten auf den EM-Titel am Rande einer Niederlage. Das Handballvolk raste, mit dem großen Sieg vor Augen. Doch am Rande von Sieg oder Niederlage werden keine Punkte verteilt. 33:30 gewannen die Franzosen ein Spiel, das die Deutschen nicht hätten verlieren müssen. Und so geht das DHB-Team mit etwas Frust, viel Zuversicht, aber null Punkten in die Hauptrunde bei der Heim-Europameisterschaft.
"Natürlich bin ich enttäuscht, dass wir das Spiel verloren haben. Wir haben insgesamt gut gekämpft. Es sind Kleinigkeiten, die bei uns gefehlt haben", sagte der vor allem in der zweiten Hälfte starke Torwart Andreas Wolff. "Wir haben insgesamt gut dagegen gehalten, wir haben über lange Zeit mit den Franzosen mitgehalten." Man wolle "in jedem Spiel ein paar Prozent besser werden", verriet Rückraumspieler Sebastian Heymann den Anspruch der deutschen Mannschaft an sich selbst. Die beiden Pflichtaufgaben zum Auftakt gegen die Schweiz (27:14) und Nordmazedonien (34:25) erledigte das DHB-Team zwischen Rausch und Souveränität, der erste echte Gradmesser auf Medaillenniveau verschaffte eine erste Idee des wahren Leistungsvermögens des Gastgebers.
Nur noch Endspiele
Ein Hauptgrund, den sie für das WM-Aus vor einem Jahr gegen den gleichen Gegner ausgemacht hatten, war die Breite des Kaders. Auch im Januar 2024 konnte Frankreichs Trainer Guillaume Gille nach Belieben ohne Qualitätsverlust wechseln. Gíslason hatte in den ersten beiden Spielen kräftig rotiert, verschaffte seinen Schlüsselspielern Knorr und Golla immer wieder Verschnaufpausen.
Nun aber verließen den Bundestrainer der Mut oder das Vertrauen in seine zweite Reihe, Golla und Knorr mussten über nahezu die gesamte Distanz Schwerstarbeit leisten. Golla hatte "gefühlt zweihundert Zweikämpfe am gegnerischen und dann nochmal hundert am eigenen Kreis geführt", wie Kollege Justus Fischer den Abend des Kapitäns beschrieb. Vielleicht habe er früher wechseln sollen, räumte der 64-Jährige ein, vielleicht habe er "Golla ein paar Minuten Pause" geben sollen - "aber hinterher ist man immer schlauer. Und vielleicht hätten wir dann das Spiel weggegeben." Für ein paar seiner Spieler seien die Franzosen, diese "Weltauswahl" (Wolff) auch eine Nummer zu groß, erklärte Gíslason freimütig.
"Die Franzosen haben verdient gewonnen", sagte Gíslason. Dennoch richtete er einen optimistischen Blick nach vorn: "Natürlich wäre es großartig gewesen, wenn wir die zwei Punkte von heute hätten mitnehmen können. Das haben wir nicht gemacht und nicht verdient. Aber da war sehr viel Positives dabei. Wir haben weiter das Ziel, ins Halbfinale zu kommen."
Nun steht der Weltklassetrainer doppelt unter Druck: Eine Niederlage gegen Island im ersten Hauptrundenspiel am Donnerstag (20.30 Uhr/ZDF, Dyn und im Liveticker auf ntv.de) würde nahezu mit Sicherheit das jähe Ende aller deutschen Träume von einem edelmetallen schimmernden Wintermärchen bedeuten. Jedes der vier Spiele in der Hauptrunde ist ein vorweggenommenes Endspiel. Das erste aber, das ist ein besonders kompliziertes für Gíslason, den Isländer.
"Ein bisschen komisch"
Schon vor der Europameisterschaft hatte Gíslason in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur erklärt, dass es für ihn schwierig sei, mit dem DHB-Team "gegen Island zu spielen. Da ist es schon etwas komisch, wenn man bei den Nationalhymnen auf der anderen Seite steht", sagte der langjährige Bundesligatrainer. 190 Spiele absolvierte der ehemalige Rückraumspieler für die isländische Nationalmannschaft, 2007 führte er sie als Nationaltrainer zu Platz acht bei der Weltmeisterschaft in Deutschland - der bis dahin größte Erfolg für das kleine Land.
Diesmal waren sie nach enttäuschenden vorangegangenen Turnieren mit großen Ambitionen nach Deutschland gereist , der Rückraum mit den beiden Magdeburgern Gisli Kristjansson und Omar Ingi Magnusson verkörpert absolute Weltklasse, Deutschlands Regisseur Juri Knorr sieht in Island sogar einen Geheimfavoriten. Und dann lieferten sie eine enttäuschende Vorrunde ab: Durch das desaströse 25:33 im Vorrundenfinale gegen Ungarn steht auch die Mannschaft um den ehemaligen Welthandballer Aron Palmarsson ohne Punkte da. Der Frust ist groß: "Ich habe keine Antwort, ganz ehrlich. Wir machen so viele kindische, technische Fehler - das kann einfach nicht wahr sein", sagte der ehemalige Bundesligaprofi des THW Kiel der Deutschen Presse-Agentur. "Vielleicht ist es gut für uns, dass wir nach so einem Spiel auf die Deutschen treffen. Wir müssen zu 120 Prozent da sein."
"Das kann ich garantieren"
Sein hochbetagter Vater werde nun in Köln auf der Tribüne sitzen und viele andere Familienmitglieder, sagte Gislason. Er sei gespannt, in welchem Trikot seine Familie - und werde das genauestens beobachten. Er werde "beide Nationalhymnen singen, auch wenn das schwierig ist", darüber hinaus machte er jedoch keinerlei Zugeständnisse, die Loyalitäten sind natürlich klar verteilt: "Ich werde alles dafür tun, dieses Spiel zu gewinnen. Das kann ich garantieren. Ich bin zwar Isländer, aber ich arbeite mit der deutschen Mannschaft und liebe dieses Team", versicherte Gislason.
Zweifel an den Loyalitäten Gislasons, als Trainer und Persönlichkeit nicht nur im deutschen Handball hochgeschätzt, sind natürlich Unsinn. Dennoch bekräftigte der Bundestrainer noch einmal: "Vielleicht bin ich da egoistisch, aber auch unter Freunden oder in der Familie will ich immer gewinnen." Es bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig.
Quelle: ntv.de