Bonn beklagt bitteren Ausverkauf Deutscher CL-Sieger bricht brutal auseinander
29.07.2023, 09:03 Uhr
Auch Kapitän Karsten Tadda hat Bonn schon verlassen.
(Foto: IMAGO/Wolter)
Die Telekom Baskets Bonn schreiben in der vergangenen Saison eine der größten Erfolgsgeschichten im Basketball. Kurz darauf fällt das Team komplett auseinander. Baskets-Präsident Wolfgang Wiedlich beklagt eine neue Dimension der Transfer-Wucherei.
Stellen Sie sich vor, Sie stellen ein Team zusammen. Die Puzzleteile greifen, es klickt. Sie werden völlig überraschend beste Mannschaft der Hauptrundensaison, gewinnen sensationell einen europäischen Titel, es ist der erste Pokal überhaupt in der Vereinshistorie. Die Euphorie kennt keine Grenzen. Und kurz darauf bricht alles einfach auseinander. Fällt in sich zusammen. Die Trainer wechseln, alle Spieler um den MVP der Saison verlassen den Klub. Neuanfang bei null.
Genau dieses Szenario haben die Telekom Baskets Bonn in diesem Sommer in der Basketball-Bundesliga (BBL) erlebt. Sie erleben es immer noch. Hinter dem Klub aus der ehemaligen Bundeshauptstadt liegt eine verrückte und hochemotionale Spielzeit.
Die Bonner etablierten sich 2022/23 unter dem finnischen Coach Tuomas Iisalo und Aufbau-Sensation TJ Shorts als die Überraschungsmannschaft der BBL-Saison. Das Team in Magenta schlug mit euphorisiertem Offensiv-Teambasketball die Platzhirsche Alba Berlin und den FC Bayern - war monatelang in der heimischen Arena ungeschlagen. Der Höhepunkt folgte dann in Europa: Im Mai feierte das Team beim Finalturnier in Malaga sensationell den Sieg in der Champions League gegen Hapoel Jerusalem (sportlich steht der Wettbewerb allerdings unter der Euroleague und ist nicht mit der Champions League im Fußball zu vergleichen). Nur für den Meister-Coup reichte es nicht. Im BBL-Finale unterlagen die Baskets einem anderen Überraschungsteam: Ulm.
Erstmal "dumm aus der Wäsche" geguckt
Aber wie das manchmal im Sport so ist: Mit dem Erfolg begann auch das brutale Bröckeln. Denn die starken Leistungen der Spieler blieben anderen Klubs nicht verborgen. Insbesondere einem Team: Paris Basketball. Ein Retortenklub, der 2017 ins Leben gerufen wurde und sich angeschickt hat, nicht nur den französischen Basketball zu erobern. Was dann geschah, sendete Schockwellen durch die Basketballstadt Bonn. "Der Sommer hält uns schon auf Trab", sagt Baskets-Präsident Wolfgang Wiedlich im Gespräch mit ntv.de und sport.de.
Denn was sich schon zum Saisonfinale hin andeutete, bewahrheitete sich für die Bonner im Frühsommer schmerzlich. Paris warb zunächst Erfolgstrainer Iisalo ab, der wiederum seinen gesamten Staff mitnimmt. Dazu folgen wohl sechs weitere Topspieler ihrem Coach nach Paris. Weitere Profis wie Finn Delany (Rückkehr nach Neuseeland), Kapitän Karsten Tadda (Rückkehr nach Bamberg) oder Jeremy Morgan (JL Bourg/Frankreich) gaben ihren Abschied aus Bonn bekannt. Alle weg.
Präsident Wiedlich bringt den Ausverkauf auf den Punkt: "Wir haben Mitte Juni bei null angefangen, da hatten einige Bundesliga-Konkurrenten schon ihr halbes Team zusammen." Der Klubpräsident gibt zu, dass man vor allem aufgrund der Pariser Wilderei anfangs etwas "dumm aus der Wäsche geguckt" habe. "Inzwischen haben wir uns gefangen, wir jammern nicht mehr, sondern gehen unsere Zukunft zuversichtlich an."
Mit diesem Umfang hat Bonn nicht gerechnet
Denn die Sache ist so: Dass im Profi-Basketball über den Sommer viele Spieler wechseln und ein Team runderneuert, mit viel neuem Personal in die neue Saison geht, ist erst mal nichts Neues - sondern seit Jahrzehnten "normaler" Marktmechanismus. Das sieht auch Wiedlich so. Er ist seit 25 Jahren im Erstliga-Geschäft. Besonders in Ligen wie in Deutschland können die Klubs in Sachen Gehälter nicht mit Europas Elite mithalten. Hinzu kommt: Den Spielern bleibt eine relativ kurze Zeitspanne, in denen sie als Profis gutes Geld verdienen können. All das nimmt Wiedlich keinem der Profis übel.
Eine neue Dimension sieht er aber darin, dass ein europäischer Konkurrent den anderen "so leersaugt". "Vier Personen aus dem Trainerstaff, sechs aus dem Spielerkader. Gesetzlich ist das alles legal", sagt der Baskets-Chef. "Aber in dieser Dimension ist es sicherlich eine Premiere im europäischen Basketball."
Das Unverständnis ist ihm noch deutlich anzuhören, auch wenn er betont, dass er keinen Groll gegen seinen Ex-Trainer Iisalo hege. Kontakt zu ihm oder den Parisern gebe es aktuell aber nicht mehr. "Man muss damit leben. Ich nehme ihm das nicht übel. Wenn man in dem Haifischbecken Profisport unterwegs ist, muss man damit rechnen", sagt der 67-Jährige. Erste Paris-Avancen für Iisalo waren ausgerechnet kurz vor dem CL-Finale in der israelischen Presse aufgetaucht. Einzelne Wechsel hatten sich also abgezeichnet, aber "dass es in diesem Umfang passiert, hatten wir nicht auf der Rechnung", so Wiedlich offen.
Ulm spricht von deutschem Wettbewerbsnachteil
Neben Coach Iisalo folgten erst die beiden Center Michael Kessens und Leon Kratzer, dann Forward Tyson Ward, in dieser Woche dann Collin Malcolm und Sebastian Herrera. Sie sind schon offiziell in Paris vorgestellt worden. Alles spricht dafür, dass auch Bonns MVP TJ Shorts zum Hauptstadt-Klub wechseln wird. Rechnet man all das Personal zusammen, das von Bonn nach Paris zieht, wird es dann schon fast zweistellig. Der Abschied von Shorts aus Bonn wurde in der vergangenen Woche offiziell gemacht. In Paris könnte er wohl das Dreifache an Netto-Gehalt verdienen.
Dass sich generell an solchen Ausverkäufen zeitnah etwas ändert, glaubt Wiedlich nicht. In seinen zweieinhalb Dekaden in Bonn habe er das oft erlebt. "Marktwerterhöhungsstation" nennt er die Situation seines Klubs dann. "Das Thema kocht immer wieder hoch." Als deutscher Klub hat man im europäischen Wettbewerb Nachteile. Das betreffe aber alle Sportarten, betont Wiedlich. Kurze Verträge und Ausstiegsklauseln sind gang und gäbe, sorgen für hohe Fluktuation. Auch ist sein Team nicht alleine mit diesen Erfahrungen.
Der Überraschungsmeister ratiopharm Ulm, der Bonn 3:1 in der Finalserie besiegte, beklagt ebenfalls einige Abgänge von Leistungsträgern. Nicht nur Finals-MVP Yago dos Santos macht von seiner Ausstiegsklausel Gebrauch und verlässt den Verein. Ulms Geschäftsführer Andreas Oettel zürnte: "Leider besteht für uns Klubs hier in Deutschland ein massiver Wettbewerbsnachteil. In Ländern wie zum Beispiel Italien, Frankreich oder der Türkei nutzen die Vereine spezielle Steuertarife für die Bezahlung der Profi-Sportler" Das führe dazu, "dass unsere Konkurrenten mit weniger finanziellem Aufwand unsere Spieler sehr viel besser bezahlen können".
Der Größere bedient sich beim Kleineren
Der Blick der Bonner Macher geht jetzt nach vorne. Ende Juni wurde der neue Coach Roel Moors aus Göttingen verpflichtet. Dessen herausfordernde Aufgabe: Zusammen mit Sportdirektor Savo Milovic einen ganz neuen Kader mit mindestens sechs deutschen Spielern (das sehen die Statuten vor) zusammenstellen. Es folgten erste Transfers, um den extrem ausgedünnten Kader wieder aufzufüllen.
Auch Moers brachte einen Spieler mit. Aus Göttingen kommt der norwegische Nationalspieler Harald Frey. Neben ihm soll Brian Fobbs, MVP aus der belgischen Liga, das Spiel der Baskets dirigieren. Zudem sendeten die Bonner mit der Verpflichtung von Nationalspieler Christian Sengfelder aus Bamberg ein Zeichen an die Konkurrenz. So wie sich Paris in Bonn bedient, muss Bonn nun ebenfalls woanders zuschlagen. Gesetz des Marktes. Der Größere bedient sich beim Kleineren.
Noch sind nicht alle Position besetzt. Coach Moers eruiere weiter den Markt, sagt Wiedlich. Er sei aber schon zufrieden, was in der Kürze der Zeit erreicht wurde. Klar ist aber: Es soll nicht ein, zwei Stars geben, die das Spiel dominieren. Man wolle wieder auf Teambasketball setzen, sowohl in der Offensive als auch in der Defensive. Das Erfolgsrezept der Bonner. Auch den CL-Coup sieht der Präsident allen voran als Teamerfolg. Die Vorgabe für die neue Saison? "Als Ziel haben wir wieder das Erreichen der Playoffs im Auge. Das halte ich auch für realistisch. In der Champions League wollen wir die Vorrunde überstehen und dann so weit kommen, wie die Füße tragen."
Die Begeisterung in Bonn bleibt
Gute Nachrichten gab es zuletzt auch vom Sponsoring. Nach einem längeren Hin und Her bekannte sich die Deutsche Telekom wieder zu den Baskets, bleibt bis mindestens 2024 als Geldgeber an Bord. "In der kommenden Saison müssen wir keine großen Abstriche machen", sagt Wiedlich zum Budget der Bonner. Was das Engagement über die Saison hinaus betrifft, sei man "in Verhandlungen mit der Telekom. Ich bin zuversichtlich."
Man werde "nicht im Niemandsland der Tabelle verschwinden, sondern wollen uns im oberen Drittel behaupten", sagt Wiedlich. "Ich glaube, dass wir Roel Moors einen Trainer haben, in den man diese Erwartung realistischerweise haben kann."
Dass die Fans den Weg des Umbruchs und Neuanfangs mitgehen, daran zweifelt er nicht. Auch wenn sie sich an zwölf neue Spieler im Bonner Kader gewöhnen müssen. Gestörte Identifikation? "Jeder versteht die Situation, in der wir uns befinden", sagt Wiedlich. "Es gibt kein großes Jammern mehr in Bonn. Das ist abgehakt."
In der Basketballstadt Bonn hatte sich im vergangenen Jahr wieder eine große Euphorie entwickelt, die die Heimstätte am Hardtberg zur Festung machte. "Die Begeisterung hat sich nicht verflüchtigt," so Wiedlich. Als Beleg nennt er die sehr hohe Dauerkarten-Nachfrage, "möglicherweise müssen wir uns ein Limit setzen." So wie es aussieht hat Bonn hat weiter Bock auf Basketball. Das wird auch in Paris keiner verhindern.
Quelle: ntv.de