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Zurück zu alter Stärke? Im WM-Rausch verwandelt sich das DHB-Team

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Die deutsche Handball-Nationalmannschaft begeistert sich selbst.

(Foto: IMAGO/Kessler-Sportfotografie)

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft liefert bei der Weltmeisterschaft ein weiteres Spektakel-Spiel. Es ist jetzt ein Lauf, der weit tragen soll. Kampfansagen gibt es nicht, aber es läuft eben einfach. Auch der Bundestrainer ist begeistert. Nun steht ein großer Schritt bevor.

Katowice ist eine schöne Stadt. Wenn man hier geboren ist. Ansonsten ist Katowice wahrlich keine Perle: Die 300.000-Menschen-Stadt im Südwesten Polens ist viele, viele Jahre ein Zentrum des Bergbaus und der Schwerindustrie, die Region nennen sie das "schwarze Herz" Polens. Über der schlesischen Metropole hängt im Winter meistens ein grauer Schleier, Wohnblöcke bestimmen das Bild in der Innenstadt. Nein, Katowice ist keine Perle.

Aber unter dem Schleier findet eine bemerkenswerte Transformation statt: Die Kohle verliert an Bedeutung, dafür kommt frisches Geld in die Stadt. Dienstleistung, Technologie, Bildung und Kultur werden immer präsenter. Um die gewaltige "Spodek"-Arena, erbaut in den 1960ern, haben sich im Stadtzentrum die großen Unternehmensberatungsfirmen arrangiert. Ein sicheres Zeichen für einen industriellen Kulturwandel. "Katowice ist eine der sich am schnellsten entwickelnden Metropolen Polens", schwärmt die Stadt von sich selbst, es bilde sich gerade "eine neue Identität."

"Alles hat funktioniert, was funktionieren konnte"

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft, die seit einer Woche zur Weltmeisterschaft in der Stadt gastiert, bekommt davon wohl nichts mit. Aber die Sache mit der neuen Identität, das spüren sie auch bei sich selbst: Das Team, das sich seit Jahren im dauernden Umbruch befindet und den großen Erfolgen vergeblich hinterherjagt, kommt auf der eigenen Transformation zurück zur Spitzenmannschaft in den Tagen von Katowice Schritt für Schritt voran.

Nach einer makellosen Vorrunde startet die Mannschaft in die zweite Etappe dieser WM mit einer gewaltigen Selbstverständlichkeit. Gegen Argentinien eröffnet das Team fulminant die Hauptrunde, die zum ersten K.-o.-Spiel bei einer WM seit vier Jahren führen soll. 6:2 steht es nach sieben Minuten, nach zwölf wechselt Argentinien den Torwart und die deutschen Fans singen "Ohne Messi habt ihr keine Chance". Die deutsche Mannschaft hat Spaß, die deutsche Mannschaft dominiert. Nach 15 Minuten muss der verzweifelte argentinische Coach schon die zweite Auszeit nehmen, es steht 12:5.

In der 22. Minute fordert der aufgedrehte Juri Knorr Torwart Andreas Wolff so vehement zum schnelleren Wechseln auf, dass der Torwart die Kollegen auf der Bank völlig entgeistert anstarrt. Nun, der Regisseur hat Spaß am Spiel, er will offenbar die Schlagzahl hochhalten. Nach 30 Minuten, die Kapitän Johannes Golla mit dem 24. deutschen Treffer abgeschlossen hat, beglückwünschen sich die Spieler zu einer grandiosen Halbzeit, auch Knorr strahlt. Ein Hauptrundenspiel bei einer Weltmeisterschaft als Teambuildingmaßnahme unter Wettbewerbsbedingungen.

"Alles hat funktioniert, was hätte funktionieren können", freut sich DHB-Sportvorstand Axel Kromer schon zur Halbzeit. Teammanager Oliver Roggisch berichtet von einer "gelösten" Stimmung in der Kabine: "Der Bundestrainer war sehr zufrieden, viel besser geht es nicht. Die Angriffseffektivität ist optimal." 24 Treffer aus 26 Versuchen: Ein statistischer Ausweis, wie konzentriert und konsequent offensiv zu Werke geht im vierten Spiel in acht Tagen. Es ist nicht weniger als ein Feuerwerk, das die Mannschaft abfackelt. Dabei warnte Gislason noch kurz vor der Partie vor dem "schnellen Spiel" des Gegners und der "sehr aggressiven" Abwehr" - und erinnerte am ARD-Mikrofon an die jüngere Vergangenheit: "Es gilt, die Ruhe zu bewahren und unser Spiel zu finden. Bei den Olympischen Spielen haben wir dafür eine Dreiviertelstunde gebraucht." In Tokio hatte die deutsche Mannschaft zur Halbzeit 14:13 geführt, am Ende hieß es 33:25.

"Damit haben wir nicht gerechnet"

Die zweite Hälfte spielen sie seriös herunter, sparen Kräfte. Spieler mit weniger Einsatzzeit wie Djibril M'Bengue, Luca Witzke oder Rune Dahmke holen sich Turnierroutine. Und man berauscht sich noch ein bisschen an sich selbst: "An einem Tag wie heute machte es extrem viel Spaß Handball zu spielen. Ich hoffe, das hat man mir und der gesamten Mannschaft angesehen", sagte der überragende Spielmacher Juri Knorr in der ARD: "Damit haben wir nicht gerechnet." Am Ende steht es 39:19.

Bundestrainer Alfred Gislason zeigt sich hinterher "extrem zufrieden" und ergänzt: "Das war eine unglaublich konzentrierte Leistung der Mannschaft. Wir haben den Argentiniern früh komplett den Mut genommen. Was mich wahnsinnig freut, ist dieser wahnsinnige Mannschaftsgeist." Gislason, der sein Amt 2020 mit dem Auftrag antrat, erstmal die Qualifikation für die Olympischen Spiele klarzumachen, die dann doch erst 2021 stattfanden, agiert seit dem ersten Tag permanent im Krisenmodus. Die Pandemie machte ein organisiertes kontinuierliches Arbeiten nahezu unmöglich, die EM 2022 wurde aufgrund endloser Corona-Hiobsbotschaften aus sportlicher Sicht zur Farce. Immer wieder muss der Isländer die Absagen wichtiger Spieler hinnehmen. Nun erlebt er sein erstes Turnier unter vergleichsweise normalen Bedingungen. Mit einer Mannschaft, die er geformt hat und die sich mit jedem Spiel mehr an sich selbst begeistern kann.

"Es hat noch nie so viel Spaß gemacht, in der Nationalmannschaft zu spielen", sagt Kapitän Johannes Golla. "Wir freuen uns richtig auf die nächsten Spiele. Wenn die Mannschaft so einen Lauf hat, wird alles viel einfacher", sagt Gislason. Den Lauf haben sie sich erarbeitet, gegen Argentinien überzeugt das DHB-Team defensiv in allen möglichen Konstellationen, offensiv zeigen Knorr und seine Nebenleute eine der besten Halbzeiten der jüngeren Nationalmannschaftsgeschichte. "Man könnte nach so einem Spiel natürlich einen Höhenflug bekommen", erklärte Paul Drux, mit 122 Länderspielen einer der Erfahrenen im Kader. "Aber alle Jungs hier wissen, dass im nächsten Spiel ein ganz anderer Gegner wartet und dieses Spiel heute dann nichts mehr bedeutet."

Der Spielplan ist für die deutsche Mannschaft wie gemalt, die Aufgaben werden schrittweise komplizierter. Die Pflichtaufgaben sind nun abgearbeitet. Auf überforderte Argentinier folgen schwer berechenbare Niederländer, im Gruppenfinale wartet Geheimfavorit Norwegen. "Die Qualität der Gegner steigert sich", sagt Golla. "Nichtsdestotrotz muss man jedes Spiel angehen, als wäre es ein Endspiel. Einen Ausrutscher darf man sich nicht erlauben." Ein Sieg aus den letzten beiden Hauptrundenspielen reicht allerdings, um das angestrebte Minimalziel Viertelfinale zu erreichen.

"Wir sind noch lange nicht am Ziel"

Jetzt geht es darum, mal wieder einen "Großen" zu schlagen in einem wichtigen Spiel. Das ist Deutschland seit 2019 nicht mehr gelungen, als sich in Berlin vor großer Kulisse Kroatien niederkämpfen ließ. Danach fehlte es in den entscheidenden Momenten immer an Klasse, an Konstanz oder eben am Personal, das den Unterschied auf höchstem Niveau machen kann. Es ist ein Prozess. Und der ist im Gange: "Unsere Stärke ist es im Moment, dass wir ganz befreit im Angriff aufspielen", sagte Golla. "Wir haben uns in den letzten Wochen ein Selbstvertrauen aufgebaut. Das gilt es nun auch in kommenden Drucksituationen umzusetzen. Ich habe da aber großes Vertrauen in jeden einzelnen."

Torwart Andreas Wolff, einer von noch fünf Spielern im Kader, der 2016 in Polen vollkommen überraschend Europameister geworden war, weiß auch, "dass mit jedem Sieg das Selbstvertrauen dieser Mannschaft wächst." 2016, das ist die Referenzgröße, an dem deutsche Handball-Mannschaften gemessen werden. Auch damals erspielte man sich als Außenseiter einen Lauf, im entscheidenden Hauptrundenspiel schlugen Wolff und Kollegen Dänemark knapp, im Halbfinale glich Rune Dahmke wenige Sekunden vor Ablauf der regulären Spielzeit gegen Norwegen aus, Kai Häfner erzielte fünf Sekunden vor dem Ende der Verlängerung den Treffer zum Finaleinzug. Und dort machte sich schließlich Wolff selbst mit einer unglaublichen Leistung gegen Spanien zu einem deutschen Handball-Idol. Es stecken gute Erinnerungen in dieser Mannschaft.

Das "schwarze Herz Polens" schlägt weiter in Schlesien, Katowice wird den Schleier immer weiter lichten und sich strahlend entwickeln. Das Herz des deutschen Handballs soll ab nächster Woche weit weg schlagen, weit im Norden des Landes, direkt an der Ostsee: Fürs Viertelfinale müsste das DHB-Team nach Danzig fahren. Katowice würden sie dann im Bewusstsein verlassen, sich eine neue Identität zurückerobert zu haben. "Wir sind noch lange nicht am Ziel", sagte Kapitän Johannes Golla zum Abschluss.

Quelle: ntv.de

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