"Lichtgestalt" Leo NeugebauerDer große Deutsche, der die Sportwelt in Angst und Schrecken versetzt
Von Torben Siemer
Bei der Leichtathletik-WM in Tokio gewinnt Leo Neugebauer Gold im Zehnkampf. Es ist die Krönung einer bemerkenswerten Entwicklung, die damit begonnen hat, dass er Deutschland verlässt. Und könnte der Startpunkt einer Ära sein.
Es ist der 21. September 2025, als Leo Neugebauer im Regen von Tokio zu Boden sinkt. Zwei zehrende Tage liegen hinter dem Zehnkämpfer, mit der härtesten aller Disziplinen zum Abschluss, den 1500 Metern. Der 25-Jährige läuft schneller als je zuvor und wirft sich mit letzter Kraft ins Ziel. Er liegt umringt von seinen ebenso abgekämpften Konkurrenten auf der nassen Bahn, als auf den Anzeigetafeln das ersehnte Ergebnis aufleuchtet: Leo Neugebauer ist Weltmeister.
Die Goldmedaille, die er wenige Momente später umgehängt bekommt, ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die 2019 damit beginnt, dass Neugebauer Deutschland verlässt. Er verlegt seinen Lebensmittelpunkt in die USA, um an der University of Texas zu studieren. Raus aus der Nachwuchsförderung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), rein in den millionenschweren Collegesport. "Dort habe ich angefangen, es richtig ernst zu nehmen", sagte Neugebauer in einer NDR-Doku rückblickend: Vorlesungen prägen zwar ebenfalls den Alltag, in erster Linie aber "habe ich wie ein Profi trainiert". In Austin kommt er auch zu seinem Spitznamen. "Leo the German" nennen sie ihn, und der Deutsche bleibt auch nach seinem Abschluss, um weiter mit Jim Garnham zu arbeiten.
Garnham ist der Trainer, der ihn zum Weltklasse-Zehnkämpfer formt. Trotz WM-Gold sieht er noch großes Verbesserungspotenzial in seinem Schützling. "Er kann etwas schaffen, was noch niemand zuvor geschafft hat", sagte Garnham, der ihn inzwischen bei großen Wettkämpfen als Teil der deutschen Mannschaft begleitet. "Er könnte besser sein als jeder, der jemals Zehnkampf gemacht hat", erklärte er dem "Münchner Merkur". Eine auf den ersten Blick verwegene Aussage, aus der einerseits die amerikanische "Alles ist möglich"-Mentalität spricht, die längst auch Neugebauer ausstrahlt. Andererseits aber auch eine Aussage, die seine Konkurrenten in Angst und Schrecken versetzen könnte. Vielleicht sogar sollte.
Immerhin ist Neugebauer der erste Zehnkämpfer überhaupt, der in drei aufeinanderfolgenden Jahren mindestens 8800 Punkte erreicht hat. 8836 als US-Collegemeister im Jahr 2023, 8961 bei seinem aktuellen deutschen Rekord 2024 und 8804 als neuer Weltmeister in Tokio. Eine Marke, die außer dem Athleten des VfB Stuttgart überhaupt nur sechs weitere Mehrkämpfer mindestens dreimal in ihrer Karriere erreicht haben - gemeinsam kommen diese Sechs auf 16 Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.
Neugebauer lernt aus Budapest und Paris
Dabei dürfte Neugebauer, der sich seinen knapp 600.000 Instagram-Followern in seinen Videos inzwischen bevorzugt als "2,01 Meter großer und 109 Kilogramm Zehnkampf-Weltmeister" vorstellt, mit seinen 25 Jahren noch längst nicht am Ende seiner Möglichkeiten angekommen sein. Neben den üblichen kleinen Verbesserungen über alle Disziplinen hinweg scheinen im Quervergleich vor allem die 110 Meter Hürden und der Speerwurf das größte Potenzial zu bieten. Auch die Stabhochsprung-Technik sieht noch eher roh aus. Dass Neugebauer trotzdem schon Weltmeister ist und mit seiner persönlichen Bestleistung von 8961 Punkten auf Platz sechs der ewigen Bestenliste steht, unterstreicht seine Einzigartigkeit. Der Weltrekord von 9126 Punkten, aufgestellt vom Franzosen Kevin Mayer im Jahr 2018, scheint ein logisches Ziel zu sein.
So sieht es auch einer, der es wissen muss: Frank Busemann, Olympia-Silbermedaillengewinner von 1996. Seit seiner Sternstunde in Atlanta hatte es kein deutscher Zehnkämpfer mehr auf das olympische Podium geschafft, ehe Neugebauer im Vorjahr in Paris ebenfalls Silber gewonnen hatte. "Der ist noch lange nicht fertig", sagte der 50-Jährige in seiner ARD-Kolumne über den 25-Jährigen, den er ehrlich bewundert. "Er ist ein Allrounder, der überall noch Potenzial hat. Und das sollte den anderen Angst machen." Denn schon jetzt ist Neugebauer laut Busemann "kurz davor, eine Lichtgestalt zu werden". Auf dem Weg dorthin wird der Ausnahme-Athlet kurz vor Weihnachten zudem erstmals zu Deutschlands Sportler des Jahres gewählt.
Auch, weil es Neugebauer in Tokio gelingt, die Lehren der beiden vorherigen Großereignisse für sich zu nutzen. Weil er mental stärker geworden ist. Schließlich war er schon zur WM 2023 als Weltjahresbester angereist, dort erstmals als Mitfavorit zu einem großen Wettkampf angetreten. Die Führung nach dem ersten Tag hatte ihn jedoch in Budapest mehr beschäftigt, als ihm lieb war. Und so fiel er nach schwächeren Leistungen gleich zu Beginn des zweiten Tages aus den Medaillenrängen und kam am Ende als Fünfter ins Ziel.
Auf dem Weg zum Tokio-Gold weit hinter Ergebnissen aus Budapest und Paris
Bei den Olympischen Spielen 2024 führte Neugebauer sogar bis zur achten Disziplin, ehe Sensationssieger Markus Rooth aus Norwegen im Speerwurf vorbeizog und ihm über 1500 Meter davonlief. Silber blieb und bleibt ein großartiger Erfolg - doch dem Modellathleten mit dem charismatischen und stets zugewandten Lächeln war anzumerken, dass er mehr wollte.
Also machte er sich gemeinsam mit Coach Garnham, der ihn auch nach dem Ende seiner Zeit als College-Athlet weiter betreut, an die Arbeit. Vor der WM 2025 sagte Neugebauer, dass er sich jetzt bereit fühle. In der japanischen Millionenstadt zeigt er an den zwei wichtigsten Tagen dieses Leichtathletik-Jahres, dass er es auch ist.
Dabei ist der Start in den Wettkampf noch eher verhalten, über 100 Meter und im Weitsprung bleibt der Deutsche etwas hinter seinen Vorleistungen zurück. Im Kugelstoßen folgt eine Saisonbestleistung, doch auch im Hochsprung und über 400 Meter scheint mehr drin gewesen zu sein. Nach dem ersten Tag liegt er als Vierter fast 200 Punkte hinter seinen Zwischenergebnissen aus Budapest und Paris.
Auch die 110 Meter Hürden, der Start in den zweiten Tag, verlaufen nicht optimal. Trotzdem springt Neugebauer auf Platz drei nach vorn: Der Weltjahresbeste Sander Skotheim stößt regelwidrig eine Hürde mit den Händen um und wird disqualifiziert. Im Diskuswurf schleudert der Deutsche die 2-Kilogramm-Scheibe weiter als je ein Zehnkämpfer zuvor bei einer WM, schiebt sich vor auf Platz zwei, wenn auch mit weiterhin deutlichem Rückstand. Im Stabhochsprung stellt Neugebauer seine Saisonbestleistung ein, während der Führende Kyle Garland schwächelt. Der ist jedoch in den verbleibenden zwei Disziplinen eigentlich stärker einzuschätzen.
WM-Titel im vermeintlichen "Zwischenjahr"
Vor allem im Speerwurf, dort, wo Neugebauer für gewöhnlich eher Punkte verliert als gewinnt. Bei 60 Metern liegt hier die Grenze zur Zehnkampf-Weltspitze, die der Deutsche bis zu diesem 21. September in Tokio noch nie übertroffen hat. Der erste Versuch scheint dafür zu reichen, doch er tritt über. Ärgerlich. Neugebauer verzichtet darauf, sich zu grämen und zieht Zuversicht aus seinem Fehler: "Deshalb wusste ich, was ich draufhatte, das hat mich für den zweiten und dritten Versuch noch mal richtig gepusht." Er lässt mit 61,00 Metern und 64,34 Metern gleich zwei persönliche Bestleistungen folgen und löst Garland als Führenden ab. "Da habe ich das erste Mal daran gedacht, dass Gold möglich ist."
Es ist jetzt ein Trio, das über 1500 Meter die Medaillen unter sich ausmacht. Neugebauers Jäger: Der US-Amerikaner Kyle Garland, sein ehemaliger Uni-Teamkollege in Texas, und Ayden Owens-Delerme aus Puerto Rico, sein Vorgänger als Sieger der College-Meisterschaften. Sie kennen sich gut, kennen die Stärken und Schwächen der anderen, kennen ihr läuferisches Potenzial. "Da wusste ich genau, was ich rennen musste." Neugebauer rennt und rennt und rennt. Schneller als je zuvor. Wird Weltmeister. Und fängt doch eigentlich gerade erst an, sein Potenzial zu entfalten.
Gelingt ihm das, hat Neugebauer die Chance, als einer der größten Leichtathleten aller Zeiten in die Geschichte einzugehen. Er ist schon jetzt auf einem Level, das kaum jemand bisher erreicht hat. Obwohl er noch immer dabei ist, das Puzzle aus Einzelleistungen zusammenzusetzen, das den Zehnkampf so faszinierend macht. In einem Jahr 2025, das eigentlich "ein Zwischenjahr" werden sollte, so wie er es bei olympics.com formulierte. Ein Jahr, in dem "es darum geht, sich an die neue Situation zu gewöhnen". Ein Jahr, das Neugebauer zum Weltmeister macht und dennoch erst der Anfang von etwas noch Größerem sein könnte. Denn es steht, zumindest für seine Konkurrenz, zu befürchten: "Leo the German" kehrt 2026 noch stärker zurück.