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Zehnkämpfer bester WM-Fünfter Neugebauer bricht besonderen "Weltrekord"

Nach den 110 Meter Hürden blickte Neugebauer ratlos auf die Anzeigetafel.

Nach den 110 Meter Hürden blickte Neugebauer ratlos auf die Anzeigetafel.

(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)

Als Fünfter beschließt Leo Neugebauer den Zehnkampf bei der Leichtathletik-WM in Budapest. Der Traum von der Medaille bleibt unerfüllt, der deutsche Shootingstar ist dennoch ein Gewinner. Weil er Widerstände überwindet und sogar einen inoffiziellen "Weltrekord" knackt.

Der Zehnkampf war längst beendet, da versuchte sich Leo Neugebauer noch einmal an einer Höchstleistung. Er sei "nicht unzufrieden" mit seinem Wettkampf, das betonte der 23-Jährige gleich mehrfach. Als wäre "Untertreibung" eine elfte Disziplin. "Nicht unzufrieden" demnach mit seinen 8645 Punkten, mit dem fünften Platz bei dieser Leichtathletik-WM und der Tatsache, in Budapest die Weltspitze aufgemischt zu haben. Von außen betrachtet hatte der zwei Meter große Modellathlet einen beeindruckenden Wettkampf abgeliefert, ja dabei sogar einen inoffiziellen "Weltrekord" aufgestellt. Wenn nämlich die Statistiken nichts übersehen haben, dann hat in der langen Geschichte der Leichtathletik noch nie ein Zehnkämpfer so viele Punkte gesammelt und trotzdem "nur" den fünften Platz belegt.

"Das Zehnkampf-Niveau wird immer höher und höher", resümierte Neugebauer, als er davon erfuhr, und übernahm sogleich Verantwortung für diese Entwicklung: "Ich bin ja auch einer von denen, die es nach oben treiben." Bei 16 der 18 vorherigen Weltmeisterschaften wären 8645 Punkte mit einer Medaille belohnt worden, diesmal waren vier andere Zehnkämpfer besser: Die Kanadier Pierce Lepage (8909) und Damian Warner (8804) gewannen Gold und Silber, Bronze holte Lindon Victor (8756) mit Landesrekord für Grenada, Vierter wurde Karel Tilga (8681) aus Estland. Allein: Bei allem Nicht-Unzufrieden-Sein ploppte ab und zu dennoch der Gedanke auf, was gewesen wäre, wenn …

Schließlich war Neugebauer als Führender in den zweiten Tag gegangen, hatte vielleicht sogar von Gold geträumt. Dann allerdings folgte über 110 Meter Hürden und im Diskuswurf ein "etwas holpriger Start". Noch so ein Satz, der an Untertreibung grenzte. Immerhin hatte Neugebauer zunächst einen Fehlstart verursacht und war dann wuchtig in die ersten beiden Hürden hineingetreten. Den drohenden Sturz konnte er vermeiden, die schwache Zeit (14,75 Sekunden) und den damit einhergehenden Punktverlust nicht.

"Kleiner Neustart" nach dem Diskuswurf

"Wie ausgewechselt", nahm deshalb ARD-Experte Frank Busemann, selbst Olympia-Zweiter 1996 und WM-Dritter 1997 im Zehnkampf, den Auftritt des Hoffnungsträgers wahr: "Gestern hat er so eine Leichtigkeit gehabt", die über Nacht allerdings abhandengekommen sei. Nach den Ursachen gefragt, sagte Neugebauer, dass "meine Beine etwas schwer waren nach dem ersten Tag", aber auch der Kopf eine Rolle gespielt habe. Im Diskuswurf blieb Neugebauer ebenso hinter den eigenen Erwartungen zurück, schleuderte die Zwei-Kilogramm-Scheibe 47,63 Meter weit. Bei seinem deutschen Rekord im Juni waren es noch knapp siebeneinhalb Meter mehr gewesen.

Daher "habe ich nach dem Diskus einen kleinen Neustart gemacht", so Neugebauer: "Ich musste mich einmal kurz ärgern." Schließlich war er in der Gesamtwertung inzwischen auf Rang vier abgerutscht, aus der Goldchance bei idealem Verlauf war die Aussicht geworden, bestenfalls noch um Bronze kämpfen zu können. "Man denkt sich schon, was hätte sein können."

Vor allem der schwache Diskuswurf habe ihn geärgert, "das ist ja eigentlich eine meiner Lieblingsdisziplinen", in der er an einem guten Tag außerdem Punkte auf die Konkurrenz gutmachen könnte. In Budapest gelang das nicht. Stattdessen musste Neugebauer nun den wichtigsten Kampf des Zehnkampfes gewinnen: den gegen sich selbst. Bei seinen 8836 Punkten im Juni war der 23-Jährige auf heimischer Anlage in Austin/Texas wie auf einer Wolke und nahezu ohne Schwächen durch den Wettbewerb geschwebt - auf der Weltbühne drohte nun der brutale Absturz.

Der Spaß kehrt zurück und die Leistung stimmt wieder

Zumal der Stabhochsprung, die achte Disziplin, auch ganz buchstäblich eine solche Bruchlandung ermöglicht. Neugebauers US-amerikanischen Uni-Teamkollegen Kyle Garland erwischte es diesmal mit drei Fehlversuchen bei der Anfangshöhe: null Punkte. Der Deutsche indes berappelte sich, erzielte mit 5,10 Meter das zweitbeste Ergebnis seiner Karriere. Da habe er "wieder Spaß gehabt", sagte Neugebauer, der im Vorfeld das Spaß-Haben als elementar für einen erfolgreichen Zehnkampf ausgemacht hatte.

Nach dem gelungenen Sprung über 5,10 Meter animierte er die Fans in der Kurve sogar zu einer kleinen Laola, die durch den Block rund um die DLV-Betreuer schwappte. "Die Stimmung in Europa ist einfach unglaublich", sagte Neugebauer, der insgesamt vom engagierten und fachkundigen Publikum schwärmte. Auch die Zuschauerinnen und Zuschauer hatten den Deutschen schnell in ihr Herz geschlossen und zu einem ihrer Lieblinge auserkoren. Wann immer er lief, sprang oder warf, wurde es merklich lauter.

Auf das sehr gute Stabhochspringen folgte ein optimales Speerwerfen. Mit 57,45 Metern beging Neugebauer zwar in erster Linie Schadensbegrenzung, denn im Vergleich mit der Konkurrenz fiel er hier ab. Trotzdem hatte er auch dabei "wieder Spaß", was sich sogleich positiv in seiner Leistung bemerkbar zu machen schien. Vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf lag Neugebauer weiterhin auf dem vierten Rang, schon mit deutlichem Abstand auf die Top Drei. Auch die Mittelstrecke, die einige Zehnkämpfer mitunter als Marathon empfinden, zählt nicht zu seinen Stärken. "Nochmal alles gegeben", habe er, und hinter der Zeit von 4:43,93 Minuten tauchte sogar das Kürzel "SB" auf: Saisonbestleistung.

Neugebauer besser als Kaul beim EM-Titel

Weil allerdings nur ein anderer Zehnkämpfer nach Neugebauer das Ziel erreicht hatte, hatten sich jegliche Gedankenspiele hinsichtlich einer Verbesserung schnell erledigt. Die letzten beiden Disziplinen sind seine schwächsten. Was auch bedeutet, dass dort wohl das größte Entwicklungspotenzial liegt, gemeinsam mit dem Stabhochsprung. Dort befähigt ihn seine etwas rudimentär wirkende Technik im Vergleich mit der Konkurrenz schon zu respektablen Ergebnissen. In den Disziplinen neun (Speerwurf) und zehn (1500 Meter) dagegen holen alle anderen in der Regel mehr Punkte.

Erschöpft ließ sich Neugebauer nach dem Lauf auf die Bahn fallen, zu den anderen völlig entkräfteten Zehnkämpfern. Verstreut liegen sie auf dem Boden und strahlen dennoch ein kollektives Gefühl der Erleichterung aus, es endlich geschafft zu haben. Nach und nach tröpfelte dann das Endergebnis auf die Anzeigetafel, das Neugebauer als Fünften auswies. Der Este Tilga war wortwörtlich noch an ihm vorbeigelaufen.

Wie gut Neugebauers 8645 Punkte dennoch sind, zeigt beispielhaft der Vergleich mit Niklas Kaul. Der hatte im Vorjahr EM-Gold in München geholt, dabei jedoch 100 Punkte weniger eingesammelt. Bei seinem WM-Coup 2019, als er sich in Doha zum jüngsten Champion der Zehnkampf-Geschichte krönte, waren es 8691 Punkte gewesen. In Budapest indes musste er nach vier Disziplinen und somit schon am ersten Tag aussteigen, weil ein technischer Fehler beim Hochsprung eine frühere Verletzung am Fuß wieder aufbrechen ließ.

Insgesamt war es dann doch "eine geile Saison"

Dennoch war Neugebauer nicht der einzige Deutsche, der sich mit den anderen Athleten auf die Ehrenrunde machte: Manuel Eitel hatte sich ebenso durchgekämpft, war aber merklich unzufrieden. Der Ulmer hatte sich bei seiner ersten WM mehr erhofft als 8191 Punkte und Rang elf -war aber anschließend zurecht stolz darauf, das Auf und Ab des Zehnkampfs in diesem besonderen Rahmen bewältigt zu haben. Er hatte unter anderem die Erkenntnis gewonnen, sich künftig von schlechteren Teilleistungen weniger die Laune verderben zu lassen. Sein Stichwort: Frusttoleranz.

Neugebauer schien derweil schon auf der Ehrenrunde die Gedanken hinter sich gelassen zu haben, was vielleicht hätte sein können, wenn dieses oder jenes anders gelaufen wäre. Gelöst und mit einem Grinsen im Gesicht schrieb er fleißig Autogramme, stand für zahlreiche Fotos zur Verfügung und erfüllte so diverse Wünsche der Fans, von denen er mit seinem Auftreten in Budapest einige hinzugewonnen haben dürfte.

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"Er bereichert die Szene", sagte Busemann, der übrigens als Aktiver dabei war, als der nun gebrochene Rekord des "Fünften mit den meisten Punkten" aufgestellt wurde. Bei Olympia 1996 stürmte er als 21-Jähriger und mit 8706 Punkten sensationell zu Silber in einem Feld, das rückblickend historisch gut war. Der damalige Fünfte Eduard Hämäläinen (Belarus/später Finnland) kam auf 8613 Punkte. Diese Marke hat Neugebauer nun übertroffen, auch wenn es dafür keine zusätzliche Ehre gibt.

"Es hätte besser laufen können", zog Neugebauer dennoch ein gemischtes Resümee, "aber es war jetzt der erste Höhepunkt, bei dem ich einer der Topfavoriten war". Dabei hat er sich höchst respektabel geschlagen und bewiesen, dass in den kommenden Jahren mit ihm zu rechnen ist: "Damit kann ich nicht unzufrieden sein." Wobei der US-Schwabe mit dem einnehmenden Lächeln sein Gesamtfazit dann doch noch etwas euphorischer formulierte: "Fünfter Platz, gute Punktzahl, deutscher Rekord - das war eine geile Saison." Alles andere wäre auch leicht untertrieben.

Quelle: ntv.de

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